Olympia-Bilanz Paris, mon amour - Eine Stadt zelebriert den Zauber der Spiele
Die Spiele der 33. Olympiade sind vorbei. Im alten Paris erstrahlte das Mega-Event in neuem Glanz, der Star war die Stadt, die Begeisterung riesig. Die Franzosen haben die Messlatte hoch gelegt - auch für eine deutsche Bewerbung.
Paris erlebte rauschhafte Spiele. Die Stadt der Liebe, der Kunst und Kultur wurde zweieinhalb Wochen lang auch zur Weltstadt des Sports, eine betörende Melange voller sportlicher Höhepunkte, ikonischer Kulissen und grenzenloser Begeisterung.
Schon die Eröffnungsfeier, wenn auch verregnet, war eine einmalige Show und wischte über Nacht die Bedenken weg, die es natürlich gegeben hatte. Die Macher trauten sich aus dem Stadion heraus und mitten hinein ins Herz der Metropole - ein Novum und ein Spektakel bei diesen streng bewachten Spielen. Euphorisch winkten die Athleten von den Booten bei der pompösen Ouvertüre im größten Theater der Welt, eine Liebeserklärung an Frankreich und seine "Art de vivre".
Die schönen Dinge des Lebens stilvoll genießen, das können die Franzosen, auch in Zeiten schwerster Krisen nicht zuletzt im eigenen Land. Als schließlich die schwer kranke Céline Dion die "Hymne an die Liebe" vom Eiffelturm schmetterte, war wohl auch dem Letzten klar: Hier ist was Großes im Gange.
Mega-Party im Herzen Europas
Prunk, Pomp und Pracht: Das alte Paris präsentierte voller Stolz, was es hat, und wie schön war das! Beachvolleyball vor dem Eiffelturm, Reiten im Schlosspark von Versailles, Fechten unter dem größten Glasdach Europas im Grand Palais, Bogenschießen am Invalidendom oder die jungen Sportarten am Place de la Concorde: Die Stadt erstrahlte im olympischen Glanz und bot eine einzigartige Bühne für das Mega-Event. Drei Jahre nach den Pandemie-Spielen in Tokio waren die Ränge rappelvoll, stieg eine gigantische Party im Herzen Europas.
Marchand und Co. reißen die Menschen mit
Vor allem wenn Frankreich Gold gewann, ertönte die Marseillaise in der ganzen Stadt. Die großen Stars der Grande Nation rissen die Menschen mit, Leon Marchand in der Schwimm-Arena, Judo-Kaiser Teddy Riner, Tischtennis-Youngster Felix Lebrun oder Antoine Dupont und seine wilde Sieben im Rugby.
Die Zuschauer sangen begeistert "Oh Champs-Elysees", in den Stadien, in den Parks beim Public Viewing, in den vielen Cafés, im Champions Park am Trocadéro. Die riesige Fanzone war eine Premiere bei Olympischen Spielen, Medaillengewinner zum Anfassen, eine tolle Idee, vielleicht setzt sie sich dauerhaft durch.
Zwischen Tahiti und Paris
Doch manches bleibt wohl einzigartig, es liegt in der Natur der Sache bei einer Stadt voll Sehenswürdigkeiten, eine ikonischer als die andere. Im Tuileriengarten schwebte Abend für Abend ein goldener Ballon in den Himmel, Zigtausende kamen und fotografierten das olympische Feuer, das eigentlich gar keins war. Als Marchand die Flamme zu Beginn der Schlussfeier dort abholte und in einer Laterne zum Stade de France brachte, erlosch der Ballon.
Im 15.000 Kilometer entfernten Tahiti flogen die Sportler zum Erfolg und surften auf einer Welle der Euphorie - um 600 Prozent stieg die Suchanfrage "Tahiti Urlaub" im Netz.
Völlig losgelöst: Der brasilianische Surfer Gabriel Medina in der Südsee.
Viel Geschichte und deutsche Erfolgsgeschichten
"Allez les Bleus", die ausgelassene Stimmung im Gastgeberland übertrug sich auch auf die französischen Athleten, die mit 64 so viele Medaillen sammelten wie nie zuvor - 16 Mal Gold, 26 Mal Silber, 22 Mal Bronze. 33 Medaillen schlugen am Ende für das Team D zu Buche, darunter zwölf Mal Gold.
Lukas Märtens hatte für einen goldenen Auftakt über 400 m Freistil gesorgt - der erste deutschen Olympiasieg im Becken seit "Albatros" Michael Groß 1988 und ein Kapitel deutscher Schwimmgeschichte. Historisch auch das Gold von Darja Varfolomeev. Vor fünf Jahren war sie allein aus Sibirien nach Deutschland gekommen - nun belohnte sich die 17-Jährige für viel Arbeit und ganz viel Mut und tanzte scheinbar federleicht zum ersten deutschen Gold in der Rhythmischen Sportgymnastik.
Werth avanciert zur Rekord-Olympionikin
In der märchenhaften Umgebung von Versailles wurden für die deutschen Reiter gleich reihenweise Träume wahr, viermal Gold und ein Rekord, mehr geht fast nicht. Vielseitigkeitsreiter Michael Jung triumphierte schon zum dritten Mal in Folge, Dressur-Königin Jessica von Bredow-Werndl wiederholte ihren Erfolg von Tokio vor Isabell Werth, gemeinsam mit Frederic Wandres hatten sie schon in der Teamwertung geglänzt. Der achte Olympiasieg bei sechsmal Silber - Werths Gesamtbilanz ist nun unerreicht und vielleicht ein Rekord für die Ewigkeit.
Ich werde mit Birgit bald einen trinken gehen. Wir haben beide echt was hingekriegt.
Und dann war da noch Christian Kukuk, er überraschte mit Gold im Einzel - das erste für Deutschlands Springreiter nach 28 Jahren. "Einfach goldig - mia san Olympiasieger", befand Thomas Müller. Der Bayern-Profi ist Mitbesitzer von Siegerpferd Checker.
Beim Comeback der Mannschaftssportarten erklomm eins der neun deutschen Teams den Olymp: Vom Sensations-Gold der 3x3-Basketballerinnen war auch Ikone Dirk Nowitzki hin und weg. Deutschland gegen Frankreich, das waren legendäre Duelle, das Wunder von Lille der deutschen Handballer im Viertelfinal-Thriller gegen die Gastgeber dürfte unvergessen bleiben - am Ende wurde es Silber hinter Dänemark.
Oliver Zeidler überwand sein Tokio-Trauma und ruderte überlegen zum Sieg - nach 32 Jahren mal wieder deutsches Gold im Einer. Die deutschen Kanuten sammelten auf der Regattastrecke die erhofften sechs Medaillen ein; darunter zweimal Gold durch den Zweier mit Jacob Schopf und Max Lemke, die zuvor schon mit dem Kajak-Vierer der Männer triumphiert hatten - doppelte Freude.
Gold und Silber in der trüben Seine
Augen zu und durch, die Triathleten trotzten der Seine. Schmeckte gar nicht so schlecht, aber der Stadtfluss war das Sorgenkind, 1,4 Milliarden Euro wurden investiert, um die "Kloake von Paris" in ein Badeparadies zu verwandeln. Doch der Regen spülte den Dreck der Stadt immer wieder hoch, Trainingssessions fielen aus, ein Triathlon musste verschoben werden.
Als es dann ging, fischte die Mixed-Staffel mit Tim Hellwig, Lisa Tertsch, Lasse Lührs und Laura Lindemann Gold aus der schnell fließenden braunen Brühe, Oliver Klemet ließ im Freiwasser über 10 km Silber folgen. Später mussten mehrere deutsche Schwimmer wegen Übelkeit, Erbrechen und Durchfall ambulant behandelt werden.
Wenn ich in zwei Tagen krank werde, dann ist das für mich auch in Ordnung.
Zu welchen Opfern Sportler für den nur alle vier Jahre stattfindenden Karriere-Höhepunkt bereit sind, zeigte auch das Beispiel Noah Lyles. Der US-Star, schon Olympiasieger über 100 m, lief die doppelte Distanz trotz akuter Covid-Infektion und wurde Dritter. Gesundheitlicher Wahnsinn? Bestimmt.
Deutsche Leichtathletik meldet sich zurück
Die deutschen Leichtathleten standen nach der medaillenlosen WM im vergangenen Jahr besonders im Fokus - und sorgten für Entspannung. Tokio-Olympiasiegerin Malaika Mihambo errang trotz Atemnot nach Corona Platz zwei, auch für Zehnkampf-Sonnyboy Leo Neugebauer glänzte Silber wie Gold.
Die Sprintstaffel um Gina Lückenkemper stürmte sensationell zu Bronze, bevor der singenden Kugelstoßerin Yemisi Ogunleye mit himmlischem Beistand das Wunder gelang: 20,00 m im letzten Versuch - Bestleistung und Sensations-Gold im Tollhaus Stade de France!
Das Stadion war schon in den Morgensessions ein Hexenkessel, da staunten selbst die Stars der Szene. "Das war das Krasseste, was ich bisher erlebt habe - diese vielen Fans, mein Gott", meinte Stabhochsprung-Artist Armand Duplantis nach seinem Weltrekord über 6,25 m vor knapp 80.000 tobenden Zuschauenden. Lückenkemper suchte gar sportpsychologische Unterstützung, um mit der Gänsehaut-Atmosphäre klarzukommen.
Das war der totale Wahnsinn, wie bei einem Fußball-Derby.
Wunderturnerin Simone Biles überstrahlt alles
Von einer Last befreit und von der Menge getragen, glänzte Simone Biles wie niemand anders in Paris. Hollywood stand Spalier, als die Wunderturnerin die olympische Bühne betrat, die sie drei Jahre zuvor in Tokio unter Seelenqualen verlassen hatte. Nicole Kidman, Natalie Portman, Tom Cruise und Regisseur Spike Lee drückten die Daumen und Snoop Dogg sowieso. Der Rapper avancierte in wechselnder Klamotte zum heimlichen Olympia-Maskottchen - wenn auch einem fürstlich bezahlten. Acht Millionen Dollar soll NBC hingeblättert haben.
Biles' Licht überstrahlte alles, das Lachen ist zurück und auch der Erfolg, dreimal Gold nahm der Megastar mit heim nach Texas und einmal Silber. Ausgerechnet am Boden siegte Rebeca Andrade, und Biles beugte vor der Brasilianerin das Knie. Ganz großes Kino und all das vielleicht auch schon ein Vorgeschmack auf die Spiele in vier Jahren in der Filmhochburg Los Angeles.
Paris die Abschiedsbühne für große Tennisspieler
Ob die 27-Jährige dann noch dabei ist, steht in den Sternen. Andere nahmen in Paris den Hut nach einer letzten großen Show. Tischtennis-Gigant Timo Boll ging mit gemischten Gefühlen, Coach Horst Hrubesch mit Bronze für die DFB-Frauen. Ausgerechnet die DHB-Auswahl vermieste Ex-THW-Kiel-Spieler Nikola Karabatic den Traum vom goldenen Karriereende, der dreimalige Welthandballer aus Frankreich wurde noch im Anschluss an das verlorene Viertelfinale offiziell verabschiedet.
Siebenkämpferin Carolin Schäfer, Vize-Weltmeisterin 2017 in London, sagte befreit "adieu", wie auch Deutschlands beste Tennisspielerin Angelique Kerber, die in Roland Garros noch einmal ihr Herz auf dem Platz ließ - im Viertelfinale ein letztes Mal.
Andy Murray verabschiedete sich mit britischem Humor ("Ich habe Tennis nie gemocht"), Paris-König Rafael Nadal zögert noch. Novak Djokovic wird weitermachen - auch nach dem Karriere-"Golden Slam". Der Rekordmann weinte hemmungslos nach seinem Gold von Paris - das schafft wohl nur Olympia.
Der Serbe ist fraglos ein ganz Großer seines Sports, vielleicht sogar der Größte. Doch wohl keine rang so herzzerreißend wie Kinzang Lhamo im Schatten der großen Namen um den persönlichen Erfolg. Getragen vom Publikum und unter tosendem Applaus schleppte sich die Marathonläuferin aus Bhutan eineinhalb Stunden nach Siegerin Sifan Hassan ins Ziel - geschafft! Ein anrührender olympischer Moment, wie es sie in Paris so viele gab.
Nord- und Südkorea im Selfie vereint
"Pris au jeu" - vom Spiel gefangen heißt es in Frankreich, wenn man alles andere um sich herum vergisst. Die Spiele als Ablenkung von Krisen und Kriegen, das klappte oft, aber beileibe nicht immer. Ein Tadschike verweigerte einem Israeli den Handschlag. Der Flaggenträger der acht Palästinenser trug ein Hemd mit aufgestickten Bombenjets als Symbol für die Angriffe der Israelis auf Gaza. Der belarussische Schwimm-Weltrekordler Ilja Schymanowitsch, der als neutraler Athlet starten durfte, wurde in der ausverkauften La-Défense-Arena frostig empfangen.
Wie herrlich war da die Geschichte von den Tischtennisspielern aus Nord- und Südkorea, die gemeinsam ein Selfie machten - ein Symbol für den Frieden.
Alle recht freundlich für ein Bild mit Symbolcharakter.
Genderdebatte überschattet die Spiele
Doping bleibt ein Dauerthema, im Reitsport der Umgang mit den Pferden. Die neuerliche Genderdebatte rund um die Boxerinnen Lin Yu-ting und Olympiasiegerin Imane Khelif war unwürdig, ohnehin steht das olympische Boxen nach Verbands-Querelen vor dem möglichen Aus. Superschwergewichtler Nelvie Tiafack kann das egal sein. Der Kölner wechselt ins Profilager und betrieb mit starken Auftritten und Bronze jede Menge Eigenwerbung.
Gemischte Bilanz des DOSB
"Wir haben in fast allen Sportarten erstklassige Leistungen gesehen, teilweise Weltklasseleistungen", bilanzierte DOSB-Leistungssportvorstand Olaf Tabor. Das Ziel Top Ten im Nationenspiegel erreichte die deutsche Olympiaauswahl mit einer knappen Punktlandung, zwölf Goldmedaillen bedeuten zwei mehr als in Tokio 2021. An die Marke von insgesamt 37 Medaillen wie vor drei Jahren - dem bereits schlechtesten Wert seit der Wiedervereinigung - reichte sie aber mit diesmal 33 (12/13/8) nicht heran.
Der Negativtrend hält an, der Reformbedarf ist offensichtlich. Eine Sportagentur soll künftig die Steuerung und Förderung des Leistungssports lenken, "ein notwendiger Schritt", so Tabor. "Als einziges Land der Welt hatten wir bisher zwei Adressen, das Bundesinnenministerium und den Deutschen Olympischen Sportbund."
Hoffen auf deutsche Olympia-Bewerbung
Vor allem aber von der deutschen Olympia-Bewerbung erhoffen sich die Verantwortlichen einen Schub, wie sie ihn die Briten 2012 und die Franzosen in diesem Jahr erlebten. Spätestens 2040 will der DOSB Olympische Spiele nach Deutschland holen, die Politik ist dabei und unterstützt finanziell. Mit rauschenden Medaillenpartys im größten Deutschen Haus der Geschichte in einem Rugbystadion wurde schon einmal kräftig die Werbetrommel gerührt und ein Zeichen gesetzt: "Wir können das."
Kanzler Olaf Scholz, Außenministerin Annalena Baerbock und Innenministerin Nancy Faeser genossen in Paris den olympischen Glanz, den Frankreich versprühte. Die Begeisterung und die spektakulären Bilder sollen auch die oft skeptische deutsche Öffentlichkeit inspirieren, so hofft es zumindest der DOSB.
"10 Jahre Arbeit, 15 Tage Glück"
Der Weg ist denkbar weit, "die Olympischen Spiele sind das Ergebnis von 10 Jahren Arbeit und 15 Tagen Glück", sagte die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo kurz vor dem Ende der Wettbewerbe. Ihre Stadt war der eigentliche Star der Spiele bei einem Gesamtbudget von 8,8 Milliarden Euro - rund ein Drittel weniger als in Tokio, Rio oder London. Am 28. August beginnen die Paralympics, dann setzt sich Frankreichs Sommermärchen noch ein wenig fort. Danach ist wieder Alltag in Paris.
Paris legt die Messlatte extrem hoch
Doch die Erinnerungen bleiben. Frankreich hat sich im Zeichen der Ringe weltoffen und tolerant präsentiert, zelebrierte den Zauber der Spiele. "Non, je ne regrette rien", sang die große Édith Piaf ein letztes Mal aus den Lautsprechern, ein Vorbild auch für Céline Dion. Sie haben wohl nichts zu bereuen, die Macher des französischen Spektakels, das Maßstäbe setzte.
In vier Jahren sind die USA gefordert, andere Zeitzone, andere Weltlage, anderer IOC-Chef, anderer US-Präsident. Leichter wird es für die Nachfolger und künftigen Bewerber nach diesen monumentalen Spielen nicht: Paris hat die Messlatte extrem hoch gelegt.