Frank Busemanns Olympia-Kolumne Hochleistungssport ist verrückt - und hochgradig unvernünftig
Was bleibt vom aufregendsten Leichtathletik-Tag bei Olympia in Paris? Eine Silbermedaille im Weitsprung durch Malaika Mihambo. Ein sechster Platz von Julian Weber im Speerwerfen. Ein Abend voller erstklassiger Ergebnisse, aber auch Bilder, die nachdenklich und traurig machen.
Sophie Weißenberg geht in den Olympischen Siebenkampf voller Vorfreude und großem Optimismus. Beim Einlaufen im Stadion reißt ihr beim Überqueren einer Hürde die Achillessehne. Ein Schock für alle Beteiligten und Zuschauer. Als sie auf der Bahn lag und im Rollstuhl aus dem Stadion gefahren wurde, sah man die Wertigkeit diesen einen Sportfestes. Es schien, als verließen alle Lebensgeister diesen so gut vorbereiteten und gerüsteten Körper der Hochleistungssportlerin. In Bruchteilen einer Sekunde weichen Freude und Spaß tiefer Trauer und grenzenloser Verzweiflung. Obwohl es doch nur Sport ist.
Dieser Sport, der Lebensinhalt und Lebenselixier all derer ist, die um sportliche Meriten kämpfen und in diesen sechzehn Tagen von Paris Milliarden von Menschen rund um den Globus in ihren Bann ziehen.
Lyles: Warum läuft er, wenn er krank ist?
Dann tritt da der selbsternannte Nachfolger Usain Bolts in das große Rund und weiß mit seiner Energie nicht hauszuhalten. Wie von der Tarantel gestochen, rennt Noah Lyles während der 200-m-Vorstellung an seinen Konkurrenten vorbei und will diese überbordende Energie in weniger als 20 Sekunden packen.
Letztlich wird er deutlich geschlagen und die Welt rätselt, warum er nicht so schnell laufen kann, wie er will oder das angekündigt hat? Auch er wird mit dem Rollstuhl aus dem Stadion gefahren, erschöpft und niedergeschlagen und kommt einige Zeit später mit Maske wieder zum Interview. Dann wird eine Covid-Erkrankung veröffentlicht, die zwei Tage vorher festgestellt wurde. Aber warum läuft er, wenn er krank ist?
Weil ein Sportler denkt: Das geht schon, das muss gehen! Es ist Olympia. Diese eine Chance kommt nur alle vier Jahre. Es muss gehen! Es wird gehen! Davon ist der Sportler überzeugt. In diesem Fall hat es nicht geklappt. Hätte er vor sich selbst geschützt werden müssen?
Femke Bol - unerklärlicher Leistungseinbruch
Im 400 Meter Hürdenlauf, der große Showdown zweier Ausnahmesportlerinnen. Sydney McLaughlin-Levrone gegen Femke Bol. Ein episches Duell. Bei 250 Metern hat Bol keine Kraft mehr. Die Amerikanerin gewinnt Gold mit Weltrekord und degradiert die Niederländerin zur Statistin, die vollkommen aufgelöst und ratlos im Ziel steht. Ein unerklärlicher Leistungseinbruch. Unerklärlich. So was kann im Sport passieren. Es kommt selten vor, aber es passiert. Trotzdem denkt man an schlimmere Dinge, als bloße, unerklärliche Tagesform mit übermäßiger Laktatausschüttung.
Verrücktes Speerwerfen - Weber Sechster
Im Speerwurf wird der Pakistaner Arshed Nadeem Olympiasieger. Und nicht, weil die anderen nichts draufhaben, sondern weil er Olympischen Rekord wirft. Und dahinter fliegen die Speere, als gäbe es thermische Aufwinde. Julian Weber wird mit erstklassigen 87,40 Metern Sechster. Fünf Menschen bei diesem Wettkampf werfen weiter als 87,40 Meter. Das ist verrückt. Auch das ist Sport. Verrückte Leistungen, die den Beobachter staunend zurücklassen. Genauso, wie acht amerikanische Medaillen in fünf Entscheidungen des Abends. Sport ist verrückt!
Mihambo - Covid-Infektion mit Folgen
Mit großer Sorge mussten die Zuschauer Malaika Mihambo sehen, die nach ihrem Wettkampf nach Luft rang und sehr unglücklich, fast panisch aussah. Der Eindruck, dass sie mit ihrer verpassten Goldverteidigung unzufrieden war, war vollkommen falsch. Sie war glücklich und zufrieden und konnte sehr gut einschätzen und spüren, was sie da gerade geleistet hatte. Die Covid-Infektion mit ihren Nachfolgen zeigte dem Übermenschen Mihambo die Grenzen auf. Sie hatte immer noch eine eingeschränkte Lungenfunktion und ist dennoch die zweitbeste Weitspringerin der Welt. Wer meint, die Lunge bräuchte man nicht beim Weitsprung, der irrt. Immer wenn Muskeln bewegt werden, benötigt man eben diese, die gerade so eingeschränkt bei ihr funktioniert.
Wie weit dürfen Sportler gehen?
Leistungssportler verschieben Grenzen, immer wieder. Manchmal überraschen sie sich und andere. Dennoch müsste es bei solchen Bildern eine Instanz geben, die festlegt, wie weit der Sportler gehen kann. Gehen darf. Aber das geht nicht.
Es liegt in der Verantwortung eines jeden Sportlers, dass er seinen Körper kennt und jeden Tag diese Grenzen verschieben will. Und dieses Sportfest, welches nun gerade läuft, das ist das Wichtigste im Leben eines Sportlers und findet nur alle vier Jahre statt. Und eben aus diesem Grund wird niemand zurückziehen, weil es schwierig wird.
Hochleistungssport ist eine hochgradig unvernünftige Sache, deshalb ist sie so bestaunenswert und dennoch hoffe ich, dass alles wieder gut wird. Für alle Beteiligten. Weil sie den Sport lieben. Und die Gesundheit über allem stehen muss.