Deutschlands Zehnkämpfer Leo Neugebauer feiert den Gewinn seiner Silbermedaille.
Kolumne

ARD-Experte Frank Busemann Busemann über den Zehnkampf - "Dieses Ding war gaga"

Stand: 04.08.2024 00:08 Uhr

Dieser Zehnkampf hatte alles, was ein olympischer Zehnkampf brauchte, meint ARD-Experte Frank Busemann. Drama, Kampf, ungeahnte Wendungen - und mittendrin Leo Neugebauer.

Von Frank Busemann, Paris

Oh, mein Gott, dieser Zehnkampf hatte alles, was ein olympischer Zehnkampf braucht. Zuversicht, Hoffnung, Drama, Bestleistungen, ungeahnte Wendungen, Kampf.

Wenn man im Vorfeld die nackten Zahlen nimmt, in der Addition Fähigkeiten eines Drittklässlers besitzt, zählt man zehn Ergebnisse zusammen und erhält eine große Punktzahl. Dann war klar, Leo Neugebauer wird Olympiasieger. Gold für Deutschland.

Wenn dem so wäre, dann würden Medaillen postalisch zugestellt, Muskelkater und Reisestrapazen könnten vermieden werden.

Mit der Last des Gejagten

Die Vorzeichen standen also gut, doch die Schar der Verfolger war so dicht und so gut wie schon lang nicht mehr. Drei Hochkaräter, die durch Verletzung oder Qualifail ausfielen, reduzierten die möglichen Medaillenkandidaten auf zehn. Ja, auf zehn! Dichtes Gedränge an der Pforte zum Glück. Und als Nummer eins in den Kampf zu ziehen ist nie so leicht.

Neugebauer startete die Saison mit zwei deutschen Rekorden im Sieben- und Zehnkampf und im Jahr zuvor machte er eine Erfahrung, die für seine weitere Entwicklung Gold wert sein konnte. Als Führender ging er in den ersten Tag und merkte bei der WM 2023 die Last des Gejagten. Bleischwer beging er Fehler, die gar nicht zu seinem lockeren Mindset passten. Er war eigentlich die Entspannung pur. In seiner eigenen Liga. Das sollte ihm nicht noch einmal passieren.

Einfach nur genießen

Er hob seine Liga 2024 nochmal um ein paar Pünktchen an. Puffer pur auf dem Weg zur Medaille. Einen genauen Fahrplan wollte er nicht benennen, wollte genießen, genau wie Niklas Kaul. Weltmeister 2019, Europameister 2022. Der weiß wie gewinnen geht, hatte mit Olympia noch eine Rechnung auf, da er in Tokio verletzt ausschied.

Die 100 Meter und der Weitsprung liefen für Neugebauer ganz gut, für Kaul machte sich schnell das Gefühl breit, der Zustand des Genusses wird die nächsten beiden Tage schwer. Der dritte Deutsche im Bunde, der für den Corona-erkrankten Manuel Eitel eingesprungene Till Steinforth, erwischte einen guten Start, rannte mit 10,52 Sekunden die schnellste Zeit, die jemals ein deutscher Zehnkämpfer bei Olympischen Spielen gerannt ist und beendete den Wettkampf mit guten 8170 Punkten auf Platz 15.

Krass: 4650 Punkte an Tag eins

Im Kugelstoßen ein kleiner Dämpfer für Neugebauer. Ein vollkommen normaler Vorgang im Rahmen eines Zehnkampfes. Ein knapper Meter zur Saisonbestleistung ist viel, aber 16,55 Meter ist immer noch verdammt weit. Passiert halt. Die Selfie-Sessions des Sonnyboys fielen spartanischer aus als noch im Jahr zuvor. Er wirkte konzentriert und fokussiert.

Er ist ein exzellenter Topathlet. Er macht Fehler, er erkennt sie, er behebt sie. Im letzten Jahr wurde ihm vorgeworfen, dass er sich durch Spiel mit den Fans seine Medaille verbaut hätte. Die verschmitzte Leichtigkeit wich ein wenig der Mission Edelmetall.

Der erste Tag endete, wie er enden musste. Als Führender mit einem soliden Wert. Das ist krass, dass 4650 Punkte an Tag eins solide sein sollen. Die sind exzellent. Das ist der Wahnsinn. Aber das zeigt seine Klasse, dass er solide 4650 Punkte macht. So fehlte die überbordende Euphorie. Gut so. Er konnte mit diesem Ergebnis beruhigt ins Bett gehen. Und zwar relativ schnell. Er hastete förmlich aus dem Stadion, gab vereinzelt Interviews und befolgte den Fahrplan des Trainer: Recovery, so schnell es geht. Nicht groß aufhalten. Erholen. Fokussieren.

College-Boy im Rampenlicht

Für Kaul war der erste Tag von Paris alles andere als Genuss und er war ratlos, warum so viel Sand im Getriebe war. Die Last des Frusts. Wenn man merkt, es läuft nicht, dann ist das eine blöde Erkenntnis. Kaul, der Überflieger der letzten Jahre. Herrscher der Juniorenklassen, jüngster Weltmeister aller Zeiten, Heimeuropameister, Elektrisierer der Massen, Endspurtmagier.

Auf einmal kommt da so ein amerikanischer College-Boy um die Ecke, der sich explosionsartig ins Rampenlicht katapultiert und plötzlich schaut die Welt auf Leo the German. Ein seltsames Gefühl. Aber auch eine Chance. Der Druck der Öffentlichkeit verschiebt oder verteilt sich. Erst in den letzten beiden Disziplinen war er der Kaul, wie er sich kennt, letztlich Platz acht mit 8445 Punkten.

Nachts beginnt die Grübelei

Am nächsten Tag sah man wieder die Herausforderung des Zehnkampfes. In der Nacht beginnt ein klein wenig die Grübelei. Wie geht es weiter? Keine Fehler machen! Locker bleiben! Fokus halten! Kleinigkeiten, die bestehende, geschmierte Systeme torpedieren. Wie kommen die Athleten in den zweiten Tag?

Bei Neugebauer fehlt über die Hürden ein bisschen. Okay, nicht schlimm, in Budapest war es wild und gefährlich. Im Diskus hier fehlte ein bisschen, okay, in Budapest war es mehr. Im Stabhochsprung fehlt wieder ein bisschen. Aber so ist der Mehrkampf.

Salto Nullo der Konkurrenten

In der achten Disziplin entfesselt sich die ganze Dramaturgie des Zehnkampfes. Der junge Norweger Skotheim schafft keine Anfangshöhe. Das sind wirkliche Probleme. Ebenso Titelverteidiger Warner. Salto Nullo. Zwei Topleute auf Medaillenkurs schießen sich selbst raus. Die anderen springen wie die Anfänger. Scheinbar will hier keiner gewinnen, oder was? Alle haben die Hosen voll. Alle? Fast alle. Einer hat den Flow.

Der heißt Markus Rooth, ist Norweger, 22 Jahre jung und strahlt Leichtigkeit aus. Er nutzt jede Disziplin, um über sich hinauszuwachsen. Er genießt diese Spiele. Strahlt, lacht, jubelt, wundert sich über sich selbst. Gefährlich sind solche jungen Burschen. Bei denen hakt manchmal was aus, und keiner weiß wo es herkommt. Die Leichtigkeit der Jugend ist das. Seit dem Stabhochsprung ist er der Goldkandidat Nummer eins. Sowas wünscht sich jeder für seine Teilnahme. Richtig einen raushauen. Immer wieder. Zwei Tage lang.

Mega, gaga, crazy

Alle wollen gewinnen, aber das sagte schon Kaul bei der EM, gut oder okay reicht bei großen Meisterschaften nicht, um zu gewinnen. Da müssen manchmal Dinger dabei sein, die mega, gaga, crazy sind. Und das war des Wikingers Kernkompetenz.

Aber, und jetzt sind wir mal ehrlich. Eigentlich ist das doch auch gaga, was Neugebauer da gemacht hat?! Vor zwei Jahren noch unerfahrener College-Rookie mit einer unfassbar mitreißenden Ausstrahlung, der in diesem Jahr schon vier erstklassige Mehrkämpfe absolviert hat und jetzt hängt er sich nach einer harten, langen College-Saison die olympische Silbermedaille um. Und wenn man sieht, was der noch draufhat, dann werden wir nicht nur heute Spaß mit ihm haben.

 Herzlichen Glückwunsch, Großer!

Dieses Thema im Programm: Das Erste | Sportschau Olympia 2024 | 04.08.2024 | 08:45 Uhr