Abschied vom Olympia-Tischtennis Sprechchöre und Tränen: Paris verneigt sich vor Timo Boll
Die internationale Tischtennis-Karriere von Timo Boll endet mit einer Niederlage im Teamwettbewerb gegen Schweden. Danach ehrt ihn das Publikum für seine Lebensleistung.
Der Tischtennisspieler Timo Boll nahm sein schwarzes Stirnband vom Kopf. Er wischte sich mit dem weißen Handtuch übers Gesicht. Ein Moment nach dem Match, wie ihn der 43-Jährige schon so oft erlebt hat in seinen fast 30 Jahren Profikarriere. Und doch war dieses Mal alles anders.
Durch die heruntergekühlte Messehalle 4 der Expo Porte de Versailles hallten schier unaufhörlich wärmende "Timo, Timo, Timo, Timo, Timo"-Sprechchöre. Fast jeder stand von seinem Sitzplatz auf und klatschte, auch die Gegner. Und auch die deutsche Basketball-Legende und der gute Freund Bolls, Dirk Nowitzki, war gekommen, er hob die Arme über seinen Kopf und applaudierte für Deutschlands größten Tischtennisspieler. Und wenn man genau hinschaute, wischte sich Boll dieses Mal nicht nur den Schweiß aus dem Gesicht, sondern auch Tränen.
Mit seinem letzten Schlag verfehlt Timo Boll die Platte
Timo Boll hat am späten Dienstagabend (06.08.2024) seine internationale Karriere als Tischtennisspieler beendet. Als er die Sprechchöre hörte, "da hat es mich brutal übermannt", sagte er hinterher. "Vielen Dank an das Pariser Publikum." Er verneigte sich vor dem Zuschauern, und Paris mit den Standing Ovations wiederum vor ihm und seiner sportlichen Lebensleistung. Es ist das Ende einer Ära, Ehre, wem Ehre gebührt. Mit seinem letzten Schlag verfehlte Boll im olympischen Team-Duell mit Schweden die Platte, Anton Källberg gewann die umkämpfte Partie 3:1 und holte so den Punkt zum entscheidenden 3:0 im Viertelfinal-Duell.
Damit hat die deutsche Mannschaft auch erstmals gegen eine andere Mannschaft als China im olympischen Team-Wettbewerb verloren - und die Medaillen verpasst. "Es war jetzt schon hart. Direkt nach dem Spiel die Enttäuschung, nicht ganz zufrieden zu sein mit seinem Spiel. Die harte Arbeit hat sich nicht gelohnt", sagte Boll, der zum siebten Mal Teil des Olympia-Teams ist. Daher verspürte er anfangs auch "so eine gewisse Leere. Ich wusste gar nicht, wie ich mich verhalten soll".
Nowitzki und König Carl XVI. Gustaf in der Halle
All das Aktuelle rückte am Dienstag aber schnell weit in den Hintergrund. Schließlich spielte die Ikone des deutschen Tischtennissports zum letzten Mal bei einem großen Turnier. So, als hätte Nowitzki das geahnt, besuchte eben eine Legende ihres Sports eigens eine andere Legende ihres Sports. Und auch der schwedische König Carl XVI. Gustaf war in der Messehalle im Pariser Süden zu Gast.
Nowitzki und Boll sind gut befreundet. Boll besuchte Nowitzki in seiner letzten NBA-Saison bei den Dallas Mavericks und war auch bei dessen Aufnahme in die NBA Hall of Fame im August 2023 dabei. "Dass er hier jetzt mein letztes Spiel mitbekommen hat, ist natürlich toll", sagte Boll, kennen lernten sich die beiden bei den Olympischen Spielen 2008 in Peking. "Er sagt schon jahrelang: 'Hör endlich auf, dass wir ein bisschen mehr zusammen unternehmen können.' Aber ich hab mich dagegen gesträubt. Jetzt ist es so weit."
Bei keinem anderen jubeln die Zuschauer in Paris wie bei Boll
Bei keinem anderen Spieler haben die Zuschauer am Dienstagabend so sehr gejubelt wie bei Boll. Was war da los, als er sich diesen einen Satz gegen Anton Källberg sicherte! Mit ihren Füßen trommelten die Anhänger wie wild auf die Stahlrohrtribünen ein und feierten dabei, es hörte sich in etwa so an, als würde die Metro der 12er-Linie vor der Messehalle direkt ins Stadion einfahren.
Die Zuschauer hätten ihn gerne noch länger international spielen gesehen, Boll wird auf der ganzen Welt geachtet für seine bodenständige, sympathische Art. "Im Nachhinein, glaube ich, kann ich ganz zufrieden sein, wie die letzten 25 Jahre verlaufen sind", sagte er - ganz Bollsches Understatement.
Und auch seine Teamkollegen Dimitrij Ovtcharov und Dang Qiu betonten diese Eigenschaften nach der Niederlage gegen Schweden: "Ich habe selten einen Sportler gesehen, der so schnell Niederlagen oder Siege einordnen und wieder in die Normalität zurückgehen kann", sagte Ovtcharov. Selbst nach Duellen, in denen es Spitz auf Knopf stand, ging er direkt im Anschluss mit seinem Kontrahenten essen und gönnte ihm den Erfolg. Eine Eigenschaft, die die Gegner auch Dirk Nowitzki zuschreiben, vielleicht verstehen sich die zwei auch deshalb so gut.
Zeitweise blitzt auch am Dienstag sein großes Talent nochmal auf
Sportlich steht Bolls Wert fürs deutsche Tischtennis wie der von Nowitzki fürs Basketball außer Frage: In den Jahren 2003, 2011 und 2018 war Boll zeitweise Weltranglistenerster. Er war damals der Europäer, der die seit jeher dominierenden Chinesen ärgerte - und immer wieder auch besiegte. Zweimal errang er olympisches Silber und zweimal Bronze mit der Mannschaft. Zudem wurde er achtmal Europameister und gewann zwei WM-Bronzemedaillen im Einzel.
Bei einigen flinken Ballwechseln, in denen Boll fast schon instinktiv das Tempo anzog und in den Angriffsmodus wechselte, waren seine Stärken am Dienstag deutlich erkennbar. In diesen Momenten mochte man es als Zuseher gar nicht glauben, dass der gebürtige Hesse inzwischen 43 Jahre alt ist - und dass er sich nach diesem Spiel nun zurückzieht. "Überraschenderweise geht es mir jetzt die letzten Monate körperlich eigentlich viel zu gut, um aufzuhören", sagte Boll selbst.
Ovtcharov muss sich denkbar knapp geschlagen geben
Die schnelle Reaktionszeit und eine extrem hohe Sehschärfe haben ihn zeit seiner Karriere ausgezeichnet. Und nun bestimmte er auch deshalb diese Rallyes gegen den 26-jährigen Spitzenspieler Anton Källberg, übrigens die Nummer 24 der Welt. Und damit (noch) eine Position hinter Boll.
Auch im Doppel unterlag Boll an der Seite von Qiu am Dienstag übrigens. Ovtcharov musste sich dem Einzel-Silbergewinner von Paris, Truls Möregard, denkbar knapp geschlagen geben - 2:3 nach Sätzen, und dabei mit 9:11 in Abschnitt fünf. Beide Spieler hatten am Ende 48 Punkte in der Partie gesammelt, aber Möregard die besseren Nerven und ein wenig auch das Glück auf seiner Seite in den engen Sätzen. Ovtcharov haderte mit dem Ergebnis, war sich sicher, dass er mit einem Erfolg über Möregard das Viertelfinale hätte wenden können.
Wie es weitergeht - das entscheidet Boll in aller Ruhe
Doch weil er es nicht tat, endet nun die medaillenreiche internationale Karriere von Timo Boll. "Das fühlt sich irgendwie so an, als ob ein Teil von mir auch aufhört", meinte Ovtcharov. Er habe ihn "wie ein großer Bruder empfangen und geholfen, zur Weltspitze aufzuschließen".
Als ich die Karriere angefangen habe, habe ich mir eigentlich gedacht, mit Ende 20 wird dann Schluss sein und dann mache ich wahrscheinlich eine Ausbildung als Bankkaufmann. Keine Ahnung, ob es dafür jetzt zu spät ist.
Für Borussia Düsseldorf wird Boll in der Bundesliga erst einmal noch weiterspielen - und die deutlich üppiger gewordene freie Zeit nun mit Freunden und Familie zu nutzen wissen. Wie es sonst weitergeht, das hat er noch nicht entschieden. Er brauche erst einmal ein, zwei Jahre, um den Kopf freizubekommen und in ein paar Sachen reinzuschnuppern.
"Als ich die Karriere angefangen habe, habe ich mir eigentlich gedacht, mit Ende 20 wird dann Schluss sein und dann mache ich wahrscheinlich eine Ausbildung als Bankkaufmann. Keine Ahnung, ob es dafür jetzt zu spät ist." Timo Boll musste selbst lachen nach der Anekdote.
Er schien - bis auf die Niederlage natürlich - durch und durch zufrieden zu sein mit seinem letzten internationalen Profi-Abend. Zum richtigen Zeitpunkt aufhören, das hat Deutschlands größter Tischtennis-Spieler geschafft. Und das eint ihn dann auch noch mit seinem Freund, Deutschlands größtem Basketballer.