Olympiasieg der algerischen Boxerin Khelif sieht Goldmedaille als Botschaft
Die im Zentrum einer Geschlechter-Debatte stehende algerische Boxerin Imane Khelif wird in Paris Olympiasiegerin – und schickt eine Botschaft an ihre Kritiker.
Als Imane Khelif auf dem Podium im Ring von Roland Garros voller Inbrunst ihre Goldmedaille küsste, wirkte es so, als sei unmenschlicher Druck von ihr abgefallen. 15.000 Fans auf dem Court Philippe-Chatrier, darunter zahlreiche ihrer Landsleute, feierten die Olympiasiegerin mit lauten "Imane"-Sprechchören. Sie lächelte selig.
Die Fans machten den Sieg der algerischen Boxerin zu einem lauten und bunten Triumphzug. Dieser stand im totalen Kontrast zu der Kritik vieler daran, dass sie überhaupt in Paris starten durfte - darunter neben Wissenschaftlern und Experten aus verschiedenen Gattungen auch eine riesige Zahl von Nutzern Sozialer Medien, die einen wahren Sturm des Hasses auf die algerische Boxerin entfachten. Eine Debatte, voller Emotionen, die Khelif wenige Minuten nach ihrem Olympiasieg fortsetzte.
"Ich bin eine Frau wie jede andere Frau. Ich wurde als Frau geboren, lebe als Frau und kämpfe als Frau. Daran gibt es keine Zweifel", sagte Khelif und fügte in Richtung aller Kritiker und Zweifler hinzu: "Sie hassen mich, und ich weiß nicht, warum. Diese Goldmedaille ist eine Botschaft an sie."
"Manneskraft zerschlägt weibliches Talent"
Als Khelif diese Worte nach Mitternacht in der völlig überfüllten Interviewzone des umfunktionierten Pariser Tennis-Tempels sprach, prasselten in den Social-Media-Kanälen schon wieder tausendfach Hassbotschaften auf sie ein. "Ein männlicher Boxer ist nun Olympiasiegerin. Manneskraft zerschlägt weibliches Talent", hatte das einflussreiche Frauenrechts-Portal "FairPlayForWomen" mit dem Schlussgong des einseitigen Kampfes Khelifs gegen die Chinesin Liu Yang auf X gepostet.
Innerhalb von Minuten sammelte die Nachricht Hunderte von Likes. Sie wurde in den Kommentaren begleitet von zum Teil wüsten Beschimpfungen gegen die Algerierin. Auch das Internationale Olympische Komitee, das das vom Weltverband IBA verhängte Startverbot gegen Khelif für Paris aufgehoben hatte, überspülte eine neue Welle aus Hass. Dass Khelif ihre chinesische Gegnerin nicht nur wegen eines möglichen Kraftvorteils, sondern auch box-technisch und -taktisch eindrucksvoll dominiert hatte, ging im Geschrei völlig unter. Khelif widmete später ihren Olympiasieg dem algerischen Volk.
Trump, Rowling, Musk
Seit ihrem Auftaktsieg am Dienstag vergangener Woche gegen die Italienerin Angela Carini – der Kampf wurde nach nur 46 Sekunden und einem Schlaghagel Khelifs abgebrochen - steht die 1999 in einer Kleinstadt im Nordwesten Algeriens geborene Frau im Zentrum des Sturms aus Hass und möglichen Falschbehauptungen, bis hin zu mutmaßlich schlichten Lügen. Donald Trump bezeichnete sie fälschlicherweise als Transgender, Harry-Potter-Autorin J.K. Rowling behauptete, Khelif sei eindeutig ein Mann, Elon Musk stimmte zu – obwohl keiner mit der konkreten Faktenlage vertraut ist.
Viele der Attacken gegen Khelif fußen auf der Behauptung des Weltverbandes IBA und ihres russischen Präsidenten Umar Kremlew, ein im vergangenen Jahr getätigter Geschlechtstest habe bestätigt, dass Khelif ein Mann sei. Angesichts der Tatsache, dass die IBA momentan durch das IOC suspendiert ist und beide Organisationen komplett über Kreuz liegen, liegt der Verdacht nahe, dass die auf Khelifs Kosten gehenden Attacken Kremlews gegen das IOC politisch motiviert sind.
Keine Beweise vom Weltverband
Beweise für die Behauptungen in Bezug auf das Geschlecht der 25-Jährigen legten Kremlew und die IBA bislang nicht vor, auch nicht im Verlaufe einer völlig chaotischen Pressekonferenz vor wenigen Tagen in Paris. Ob Khelif Varianten der Geschlechtsentwicklung vorweist – durchgesetzt hat sich in der Begrifflichkeit das englische Akronym DSD ("Differences of Sexual Development") - und somit tatsächlich männliche Geschlechtsanteile in sich trägt, etwa erhöhte Testosteronwerte, bleibt zu klären. Wissenschaftlich erwiesen ist, dass vor allem durch ein möglicherweise erhöhtes Level des männlichen Geschlechtshormons Testosteron DSD-Athletinnen im sportlichen Wettkampf mit Frauen ohne DSD entscheidende Vorteile haben können.
"In einer Sportart wie dem Boxen ist der Nutzen dieses männlichen Leistungsvorteils sehr, sehr groß", sagte Tommy Lundberg, Physiologie-Experte an der Universität Stockhom, der ARD: "Ich denke, der Schutz der weiblichen Kategorie und die Gewährleistung der Chancengleichheit sind von großer Bedeutung." Das IOC solle "seine Richtlinien überprüfen". Menschenrechtsaktivistin Payoshni Mitra, die sich seit vielen Jahren für DSD-Athletinnen einsetzt, hielt dagegen: "Diese Athletinnen haben sich an die Regeln gehalten und durften an den Olympischen Spielen teilnehmen. Und jetzt werden sie mit einer solchen Form der Demütigung konfrontiert - das ist absolut unfair."
Warum kein Einspruch?
Ein Fakt, der von Szenekennern indes aufmerksam registriert wurde, aber in der breiten Öffentlichkeit kaum Erwähnung findet, ist zudem: Weder Khelif noch die ebenfalls in der Geschlechterdebatte stehende taiwanesische Boxerin Lin Yuting, die am Samstagabend in Paris ebenfalls Olympia-Gold gewann, sind bislang vor dem internationalen Sportgerichtshof CAS gegen die Sperren vorgegangen, die die IBA im vergangenen Jahr aufgrund der angeblich eindeutigen Geschlechtstests abrupt verhängt hatte.
Warum beide Boxerinnen, wenn sie denn selbst davon sprechen, dass sie Frauen seien, sich nicht frühzeitig vor den Olympischen Spielen gegen diese Sanktionen des Weltverbandes wehrten, ist ungeklärt. Dass die beiden Boxerinnen nicht unabhängig von der laufenden Debatte selbst mit medizinischen Dokumenten ihre Geschlechtsidentität belegen, wird ihnen von Kritikern vorgeworfen.
Zukunft des Olympia-Boxens zweifelhaft
Das IOC vermittelt derweil immer mehr den Eindruck, auf größtmöglichen Abstand zur schmutzigen Debatte gehen zu wollen, zu der es mit einer Entscheidung einen großen Beitrag geleistet hatte: Es definiert das Geschlecht der Boxerinnen in Paris ausschließlich nach der Angabe in ihren Reisepässen. Wegen der Suspendierung der unter Korruptionsverdacht stehenden IBA organisiert das IOC in Paris die Box-Wettkämpfe selbst.
IOC-Präsident Thomas Bach besuchte am Freitag lieber die Breaking-Wettkämpfe, beim Boxen in Roland Garros ließ er sich nicht blicken. Der deutsche Wirtschaftsanwalt betonte erneut, dass das olympische Boxen nur eine Zukunft unter der Federführung eines stabilen Weltverbandes haben könne. Ob dies der "World Boxing" genannte IBA-Konkurrent sein kann, soll sich im kommenden Jahr entscheiden.