Deutschland im Medaillenspiegel verbessert "Einmalige Paralympics" verbinden Sportler und Paris
Die Paralympics in Paris haben wie schon die Olympischen Spiele für viele besondere Momente gesorgt - sportliche wie menschliche. Dem Para-Sport haben sie eine große Bühne beschert. Die deutsche Bilanz fällt positiv aus.
Es ist wohl eine der kuriosesten Geschichten, die die Paralympics geschrieben haben. Ausgerechnet der alte Hase Markus Rehm bringt den kompletten Ablauf eines Wettkampftages durcheinander, weil der Champion bei seiner eigenen Medaillenzeremonie fehlt. Der 36-Jährige hatte bis in die frühen Morgenstunden seinen vierten Triumph im Weitsprung gefeiert und war zu spät Richtung Stadion aufgebrochen.
"Aber meine leichte Verspätung", wie Rehm mit einem breiten Grinsen sagt, "hatte sogar noch etwas richtig Gutes und war noch richtig wichtig." Denn in den Katakomben des Stadions konnte er Teamkollegin Nele Moos aus der Patsche helfen. Die 22-Jährige hatte offenbar selbst nicht damit gerechnet, dass sie zu Paralympics-Silber springen würde und die vorgesehene Kleidung für das Siegertreppchen nicht dabei. Rehm lieh ihr kurzerhand seine Klamotten, und Moos konnte ihre erste Medaille rechtzeitig entgegennehmen.
Im Medaillenspiegel "aufgeholt" und im "Zielsektor" gelandet
Nach dem historisch schlechten Abschneiden in Tokio mit 43 Medaillen haben die Para-Athleten in Paris den Abwärtstrend gestoppt. Karl Quade, Chef de Mission des Deutschen Behindertsportverbandes (DBS), zog nach seinem enttäuschten Halbzeitfazit bei der Abschluss-Pressekonferenz eine deutlich positivere Bilanz: "Wir haben gut aufgeholt. Und wir sind im Medaillenspiegel im Zielsektor 'Top Ten plus minus' gelandet."
Angeführt von Rehm, der bei der Eröffnungsfeier die Fackel tragen durfte, holte das DBS-Team in Paris insgesamt 49 Medaillen. Quade hob hervor, dass die deutschen Athletinnen und Athleten - anders als einige vor ihnen platzierten Nationen - in elf unterschiedlichen Sportarten Edelmetall geschürft haben. Am Samstagabend und Sonntag mit Rollstuhl-Basketball und Para-Kanu kamen noch die zwölfte und 13. Sportart hinzu.
Einzig bei den Goldmedaillen (10 im Vergleich zu 13) blieb der DBS hinter den Werten von Tokio zurück. Nur im Boccia, Bogenschießen, Rugby und Tennis gewann das deutsche Team keine Medaille. Allerdings war Deutschland im Blindenfußball, Goalball, Gewichtheben und Taekwondo diesmal auch gar nicht erst vertreten.
Paris weiß wirklich zu beeindrucken
Rehm ist sich sicher, dass diese Spiele "für viele, viele Jahre in Erinnerung bleiben" werden - und spricht dabei nicht von den deutschen Erfolgen. Paris wusste wirklich zu beeindrucken: durch fast 80.000 Zuschauende im Stade de France oder die begeisternde Stimmung an der Triathlon-Strecke am Pont Alexandre III, die malerische Kulisse beim Reiten im Garten von Versailles, die Fecht-Wettkämpfe unter der mächtigen Kuppel des Grand Palais oder Blindenfußball im Stadion am Fuße des Eiffelturms.
Und dann ist da ja auch noch der Ballon mit dem paralympischen Feuer. Zum Sonnenuntergang pilgern laut Angaben der Stadt im Schnitt immer noch täglich 15.000 Menschen in die Tuilerien, um zu sehen, wie der Feuer-Ballon gen Himmel steigt.
Nicht nur DBS-Präsident Friedhelm Julius Beucher ergötzte sich an den immer wieder atemberaubenden Spielen "der weltbesten Para-Athleten im historischen Paris". Der 78-Jährige bezeichnete die Spiele als "einmalig".
Familie und Freunde stärken Team den Rücken
Das waren sie für das deutsche Team auch, weil so viele Freunde und Familienmitglieder in Paris mit dabei sein konnten. Eine ganz besondere Geschichte schrieb Lukas Gloßner - nicht nur, weil er mit seinen Teamkollegen als Drittplatzierter mit der Rollstuhl-Basketball-Nationalmannschaft der Männer die erste Medaille seit 32 Jahren holte. Der Münchner, der als 16-Jähriger einen schweren Unfall hatte, hatte seinen eigenen großen Fanclub dabei.
"Ich kenne viele von den Jungs schon seit über zehn Jahren. Bevor ich den Unfall hatte, waren das meine Freunde und danach sind sie es alle geblieben. Wir haben so viel zusammen gemacht und eine weite Reise zurückgelegt, um jetzt zusammen in Paris sein zu können. Ich bin sehr stolz, sie zu haben", sagte der 24-Jährige.
Zuschauer sorgen für unvergessliche Momente
Nach den rauschhaften Olympischen Spielen war die Sorge aufgekommen, die Paralympics könnten stimmungsmäßig abfallen. Aber davon war bei gut 2,4 Millionen verkauften Eintrittskarten nicht viel zu merken.
Speerwerfin Lise Petersen konnte sich im fast voll besetzten Stade de France nicht satt sehen. "Ich will gar nicht gehen. Es ist megaschön", sagte die 19-Jährige und ließ noch einmal den Blick schweifen. "Es ist unfassbar, dass ich das hier miterlebe."
Tanja Scholz, zweifache Medaillengewinnerin im Schwimmen, bezeichnete die Stimmung in der Schwimmhalle als Wahnsinn. Ihr sei das alles "sogar ein bisschen zu groß. Es fühlt sich irreal an. Man kann das gar nicht glauben, was hier alles abgeht."
Großes Lob für die Schwimmabteilung
Das Schwimmteam war der große Medaillengarant und bekam ein Extra-Lob von Funktionär Quade. Besonders viel Freude bereitete Top-Athlet Josia Topf, der trotz berechtigter Sorgen um seine Gesundheit einen ganzen Medaillen-Satz mit nach Hause bringt und mit seiner ausgelebten Freude bei den Siegerehrungen viele Herzen erwärmte.
Aber auch Elena Krawzow und Taliso Engel sind zu nennen. Sie schwammen nicht nur innerhalb von einer halben Stunde beide zu Gold, sondern feierten bei den Paralympics auch Weltrekorde. Sie haben echtes Starpotenzial.
Als einzige Deutsche gleich zweimal Gold holte Natascha Hiltrop im Schießen. Außerdem krönten sich Scholz über 150 m Lagen, Markus Rehm im Weitsprung, Maurice Schmidt im Fechten, Maike Hausberger im Zeitfahren auf der Straße und als Letzte Sandra Mikolaschek im Tischtennis zu Paralympics-Siegern.
Radsport fällt ab, "Klärungsbedarf" in der Leichtathletik
Die Pariser Extra-Motivation nutzten allerdings längst nicht alle. Das Radsportteam konnte insgesamt nicht an die Erfolge von Tokio anknüpfen. Zwölf Medaillen in Tokio waren schon so wenige wie lange nicht. Nun kamen lediglich sieben zusammen.
"Klärungsbedarf" kündigte Quade angesichts des Medaillenrückgangs in der Leichtathletik an. Allerdings hat in diesem Bereich auch die erhoffte Professionalisierung des Para-Sports am deutlichsten Einzug gehalten.
Die Leistungsdichte hat enorm zugenommen. In der Leichtathletik gab es grandiose Wettkämpfe, deren Ausgang nicht vorherzusehen war.
Superstar Rehm gewann zwar wie erwartet seinen Weitsprung-Wettkampf. Mit immer noch stattlichen 34 Zentimetern fiel der Vorsprung aber klein wie lange nicht aus. Léon Schäfer hatte in seiner Startklasse gleich zweimal Gold angepeilt (Weitsprung und 100 m), wurde aber zweimal Vierter.
Und auch Weltrekordler und Tokio-Sieger Johannes Floors musste sich auf der Stadionrunde mit Rang zwei begnügen. "Die Leistungsdichte hat enorm zugenommen. In der Leichtathletik gab es grandiose Wettkämpfe. Schöne und enge Wettkämpfe, deren Ausgang nicht vorherzusehen war", bilanzierte der Silbermedaillen-Gewinner, der seinen zweiten Platz vor allem als Ansporn für die Zukunft sah.
Förderung? Aussichten sind "erbärmlich"
Doch wie steht es um die Zukunft des deutschen Para-Sports? Anstatt durch weitere Investitionen - gerade mit der angestrebten Bewerbung für die Spiele 2040 im Hinterkopf - für eine bessere Perspektive zu sorgen, ging ein Aufschrei durch die Abteilungen des DBS. Diversen Trainern wurde nach der ersten Aufstellung des Bundeshaushalts für 2025 mitgeteilt, dass sie im kommenden Jahr nicht mehr beschäftigt werden können, weil Geld fehlt.
Quade rechnete vor, dass im kommenden Jahr 600.000 bis 700.000 Euro weniger zur Verfügung stehen als noch in diesem Jahr. Dadurch stehe ein Viertel der Trainer vor dem Aus. Tischtennis-Bundestrainer Volker Ziegler nannte die Entwicklung im Vergleich zu anderen Nationen "erbärmlich".
Präsident Beucher, früher selbst Politiker im Bundestag, machte bei der Abschluss-Pressekonferenz allerdings Hoffnung. "Der Haushaltsentwurf geht jetzt ins parlamentarische Verfahren. Und da werden Karl Quade und ich auf jeden Fall unsere Fachexpertise einbringen", sagte der DBS-Präsident, der aber auch betonte: "Wir können unsere Position in Zukunft nur behaupten, wenn die Finanzen gut sind."
Paralympics mitten in der Stadt "eine Revolution"?
Apropos Finanzen - die Sommerspiele in Paris wollten durch größere Investitionen auch in Sachen Nachhaltigkeit punkten. Aus Sicht der Menschen mit Beeinträchtigungen geht es dabei nicht zuletzt um die Barrierefreiheit in ihrer Stadt. Nach offiziellen Angaben sind 125 Millionen Euro investiert worden, um die Stadt der Liebe für alle zugänglich zu machen.
Präsident Andrew Parsons vom Internationalen Paralympischen Komitee (IPC) bezeichnete die Spiele mitten in Paris als "Revolution" und als einen ganz großen Schritt für die französische Hauptstadt in Sachen Barrierefreiheit: "Die Verbesserungen, die Paris in den vergangenen sieben Jahren gemacht hat, sind fantastisch."
Paris' Barrierefreiheit auf hartem Prüfstand
Vielfach ist die Situation allerdings nach wie vor ein Graus. Der niederländische Nachwuchsathlet Terry Koper machte schon früh auf die Probleme aufmerksam. Ein Video, das den Rollstuhlfahrer dabei zeigt, wie er rückwärts die Treppe zur Metro runterfährt, ging bei Instagram viral. Der Text dazu lautet: "Auf dem Weg zur Eröffnungsfeier der Paralympics Paris 2024. Erster Schritt: Die Metro überleben."
Sportschau-Expertin Kirsten Bruhn mied die Metro lieber gleich, kam sich aber auch auf den Wegen durch die Stadt bisweilen wie in einem "Offroad-Trainingslager" vor. Und mit Blick auf fehlende Barrierefreiheit bei Bussen und Metro kritisierte sie: "Ich kenne solche Situationen aus meinem Alltag. Aber das hier sind die Paralympics, da hätte ich solche Probleme nicht erwartet."
Die Sommerspiele haben es zumindest geschafft, dass diese Probleme nun auf der Tagesordnung stehen. Aus der Pariser Politik war allerdings schon zu hören, dass sich ein Großteil des Metronetzes zwar modernisieren ließe, die Arbeiten würden jedoch 20 Jahre dauern und zwischen 15 und 20 Milliarden Euro kosten.
Baden in der Seine? Lieber nicht!
Sehr viel Geld ist bereits in die Verbesserung der Wasserqualität der Seine geflossen, die 100 Jahre lang nicht zum Schwimmen freigegeben werden konnte. Dass hier auch während der Paralympics geschwommen werden sollte - ein teures Prestige-Projekt.
Nachdem es während Olympia schon Ärger samt erkrankter Athleten gegeben hatte, sorgte die Wasserqualität auch bei den Paralympics für Aufregung. Obwohl sich der Regen in den Tagen zuvor in Grenzen gehalten hatte, war offenbar wieder die Kanalisation überfordert gewesen, sodass die Triathlonwettkämpfe verlegt werden mussten. Die Pariserinnen und Pariser sollten wohl auch in Zukunft auf ein Bad in der Seine verzichten.
Paris muss Vergleich mit London nicht scheuen
Schneller, höher, stärker - das ist das alles bestimmende Motto im Sport. Und meist ist es ein Reflex, jede neue Sportveranstaltung als die beste aller Zeiten zu preisen. Nur um dann ein paar Jahre später wieder dasselbe zu behaupten.
Bisher galt sowohl bei Olympia als auch bei Paralympics London 2012 als das Nonplusultra. Beucher sagte nun, Paris habe "noch mal eine Schippe draufgelegt". Aber war das wirklich so? Der Chef de Mission ist sich da nicht so sicher, Quade fasste zusammen: "Paris war sicher auch sehr gut. Es ist schwierig zu vergleichen."
Franzosen feiern - nicht zuletzt sich selbst
Auffällig war jedenfalls an einigen Wettkampfstätten, dass sich die Tribünen füllten oder leerten - abhängig davon, ob gerade Französinnen und Franzosen um Medaillen kämpften oder nicht. "Das hat es in London nicht gegeben. Da waren die Hallen immer voll", befand Tischtennisspielerin Stephanie Grebe.
Während die sportbegeisterten Briten bei den Paralympics 2012 eine große Party zelebrierten, feierten viele Franzosen (70 Prozent der Karten wurden im Land des Gastgebers verkauft) vor allem ihre Grande Nation. Ob durch das Schmettern der "Marseillaise", das Besingen der Champs-Élysées oder das gemeinsame Trällern von Evergreens wie "Voyage, Voyage" - was aber trotzdem für eine tolle Stimmung und nicht nur bei Rugby-Spielerin Britta Kripke für "richtig Gänsehaut" sorgte.
Für eine besondere Verbindung zwischen Sportlern und der Stadt sorgten wie schon bei Olympia zwei Aspekte: Die Sieger läuteten im Stadion eine Glocke, die schon bald in der Kathedrale Notre Dame hängen soll. Und: In jede Medaille war ein Stück vom Eiffelturm eingearbeitet. "Das finde ich unfassbar, den darf ich mit nach Hause nehmen", freute sich selbst Routinier Rehm. "Diese Ideen verbinden den Sport und die Spiele mit der Stadt."
Moos: "Para-Sport ist etwas ganz Großes"
So oder so hat der Para-Sport auf dem Weg ins Blickfeld einer breiten Öffentlichkeit einen weiteren großen Schritt nach vorn gemacht. "Parasport ist etwas ganz Großes, wir sind auf einer Ebene mit den olympischen Athleten", sagte Moos, die junge Athletin, die sich Rehms Zeremonien-Outfit geliehen hatte. "Wir arbeiten genauso hart. Wir trainieren genauso hart. Wir haben verdient, auf genauso großer Kulisse zeigen zu dürfen, was wir können."
Sportler als Vorbilder für die nächste Generation
Prothesen-Läufer Floors berichtete davon, dass sich nach seinem Wettkampf über die Sozialen Medien mehrere Familien bei ihm gemeldet hätten, deren Kinder wie er eine Fibula-Aplasie haben. Weil ihm die Wadenbeine fehlten und er beim Gehen als Jugendlicher immer größere Schmerzen hatte, entschied er sich gegen den Rollstuhl und für eine Amputation.
Kugelstoßer Niko Kappel sah einst den ebenfalls kleinwüchsigen Mathias Mester und wollte ihm nacheifern. Rehm inspirierte mit Schäfer und Noah Bodelier gleich zwei diesjährige Paralympics-Starter, sich trotz ihrer Amputation dem Leistungssport zu widmen. Durch mehr Wahrnehmung können Para-Sportler zu Vorbildern werden.
Ausblick: "Los Angeles wird unglaublich groß"
Und wie die Sportler so weisen auch die Spiele selbst den Weg in die Zukunft. Die Rollstuhl-Basketballerinnen gerieten schon in Paris beim Gedanken an Los Angeles 2028 ins Schwärmen. "L.A. wird unglaublich groß. Die Amerikaner haben es drauf", frohlockte Lisa Bergenthal.
Die 24-Jährige hat nach ihrem Debüt in Tokio den Flair der Spiele in Paris nahezu inhaliert. Gleiches gilt für Speerwerferin Petersen, die staunend miterlebte, wie ihre beiden Konkurrentinnen aus Venezuela und Usbekistan bei ihren jeweils letzten Versuchen von Zehntausenden Zuschauenden noch zu einem Paralympics- und einem Asienrekord gepusht wurden.
Für die 19-jährige Hamburgerin war es Ansporn, sich in den kommenden vier Jahren noch mal zusätzlich ins Zeug zu legen: "In Los Angeles will ich auch vorne mitspielen. Das ist mein großer Traum." Und dank der Erfahrungen von Paris, sollte sie beherzigen, dass sie dann auch die richtigen Klamotten mit ins Olympiastadion nimmt. Man weiß ja nie.