England gegen das ganze Stadion Trägt die Euphoriewelle Australien ins WM-Finale?
Australien empfängt England zum WM-Halbfinale im mit über 75.000 Fans ausverkauften Olympiastadion von Sydney. Es ist das bisher größte Spiel der australischen Fußball-Geschichte. Auch die englischen Spielerinnen wollen die Partie genießen, obwohl fast das ganze Stadion gegen sie sein wird.
Ob sie aufgeregt seien, wurden Nationaltrainer Tony Gustavsson und Torhüterin Mackenzie Arnold bei der Pressekonferenz vor Australiens Halbfinale gegen England am Mittwoch (16.08.2023, 12 Uhr MESZ, live im Ersten und auf sportschau.de) in Sydney gefragt. Gustavsson beugte sich ein Stück nach vorn zu seinem Mikrofon und grinste breit: "Zunächst einmal kann man sehen, dass viele Menschen hier aufgeregt wegen des Spiels sind." Mit gut 200 Journalistinnen und Journalisten war der Raum gerappelt voll.
Die "Matildas" haben ganz Australien mit dem Fußball-Virus infiziert - und nicht zuletzt mit dem Elfmeter-Krimi gegen Frankreich auch emotional total gepackt. Nach dem Spiel in Brisbane weinte eine australische Journalistin vor Glück, als sie eigentlich bei der Pressekonferenz dem Coach eine Frage stellen wollte.
Keeperin Arnold: "Wir sind noch nicht fertig"
Im fast tausend Kilometer entfernten Sydney war das weite Rund bei Englands Viertelfinale gegen Kolumbien bis kurz vor dem Anpfiff noch gähnend leer, weil auf dem Vorplatz des Stadions und im Umlauf alle Blicke gebannt auf die Monitore gerichtet waren. Videos vom Jubel über den entscheidenden Elfmeter sind bei Social Media viral gegangen. Die Zeitungen sind voll. Und zu Hause saßen so viele Menschen zur selben Zeit wegen einer Sendung vor den Fernsehern wie seit mehr als 15 Jahren nicht mehr.
"Ja, wir sind sehr aufgeregt", lautete dann auch die wenig überraschende Antwort von Torhüterin Arnold. Das Team kann den bis dato größten Tag in der australischen Fußball-Geschichte kaum noch erwarten. Aber die Keeperin sagte auch: "Wir sind noch nicht fertig." Und Gustavsson erklärte: "Das Team ist willens und in der Lage, Mauern einzureißen und Geschichte zu schreiben. Mit den Fans in unserem Rücken."
Australien zuletzt zweimal siegreich gegen Engländerinnen
Gustavsson sagte zwar, er wolle die Favoritenfrage nicht beantworten, zählte dann aber doch auf, dass Spielerinnen aus seinem Team bei schwedischen Mittelklasse-Clubs und in Australien spielen oder bei englischen Clubs auf der Bank sitzen, wo gleichzeitig die großen englischen Stars auf dem Feld stehen.
Ich spüre keinen Druck. Es ist ein Privileg, dass so viele Menschen in Australien an uns glauben. Das ist unfassbar. Das ist unser Treibstoff, unsere Energie.
Die jüngere Vergangenheit spricht allerdings für sein Team. Im April fügte Australien England die bis dato einzige Niederlage seit der Amtsübernahme von Sarina Wiegman zu. 2:0 gewannen die "Matildas" das Testspiel. Und auch bei den Olympischen Spielen in Japan setzte sich Australien durch. Auch wenn der Gegner offiziell Großbritannien hieß, standen natürlich trotzdem viele Engländerinnen auf dem Feld.
Schlägt gegen England Kerrs große Stunde?
Bei beiden Spielen unter den Torschützinnen war Sam Kerr. Australiens Superstar - der nach einer Verletzung zu Beginn der WM immer noch nicht wieder im Vollbesitz seiner Kräfte ist. "Sie hat gegen Frankreich länger gespielt, als wir gedacht hatten", erklärte Gustavsson, der die Stürmerin bereits in der 55. Minute gebracht hatte. Da konnte er noch nicht wissen, dass noch 65 Minuten und das Elfmeterschießen vor der 29-Jährigen liegen würden, die auch bei ihrem Club Chelsea eine Heldin ist.
"Reset and recover" seien die Schlüsselwörter nach dem Viertelfinale gewesen. Auch bei den angeschlagenen Spielerinnen hätte das sehr gut geklappt. Auftrieb dürfte zudem allen gegeben haben, dass der Coach nach dem Spiel zum ersten Mal den Familien den Zutritt zum Teamhotel gestattete. Aber ab der Busfahrt zum Flughafen am Morgen danach hätte der volle Fokus auf dem England-Spiel gelegen - und dafür kündigte der 50-Jährige einige harte Personalentscheidungen an.
"Lionesses" werden auf eigenen Ballbesitz setzen
Englands Trainerin Sarina Wiegman betonte, auf beide Fälle vorbereitet zu sein. Ob Kerr spielt oder nicht. "Australien ist mehr als sie", betonte die Niederländerin, die als ein gutes Mittel gegen die Stärken der "Matildas" eigenen Ballbesitz nannte. Sie warnte aber auch: "Australien ist ganz sicher kein Underdog. Sie spielen zu Hause. Und das Team ist im Laufe der WM wirklich über sich hinausgewachsen."
Keine personellen Überraschungen von England zu erwarten
Das gilt allerdings auch für ihre Auswahl, die sich nach den verletzungsbedingten Ausfällen der drei Europameisterinnen Leah Williamson, Fran Kirby und Beth Mead in diesem Jahr erst einmal finden musste. Der Trainerfüchsin ist es gelungen, trotzdem eine sehr schlagkräftige Mannschaft zu formen. Und zumindest personell dürfte es keine großen Überraschungen geben.
Lauren James ist für das Halbfinale wegen ihrer Roten Karte in der Partie gegen Nigeria noch ein Spiel gesperrt. Ella Toone ersetzte sie bereits gegen Kolumbien. Ansonsten standen in der K.o.-Runde gleich zehn Spielerinnen zweimal in der Anfangsformation.
England nach der Heim-EM im großen Auswärtsspiel
Kapitänin Millie Bright kennt das Gefühl des Heim-Turniers von der EM im vergangenen Jahr noch bestens. Dass es nun genau andersherum ist, ficht sie nicht an. "Genau so wünscht man sich ein WM-Halbfinale, mit einem vollen und lauten Stadion", sagte die Abwehrchefin, die wie Kerr für Chelsea spielt. "Es ist ein stolzer Moment für den Frauenfußball, dass die Leute, die zu Hause den Fernseher anmachen, sehen, für was für eine unglaubliche Atmosphäre wir sorgen."
Man muss diese besonderen Momente genießen. Wir haben sehr hart gearbeitet, um jetzt im Halbfinale zu stehen. Wir können stolz sein.
Wiegman hat ihr Team wieder genau auf die Stärken der Gegnerinnen vorbereitet, sie habe aber auch ein paar Schwachstellen gefunden. Wie ihre Spielerinnen geht auch die Trainerin mit großer Vorfreude in das mit mehr als 75.000 Fans wieder ausverkaufte Spiel im Olympiastadion. "Im Fußball wird immer viel erwartet, aber es gibt eben keine Garantien. Wir sind jetzt nur noch einen Schritt vom Endspiel entfernt - und den wollen wir auch noch machen", unterstrich die englische Nationaltrainerin, die einräumte, dass sie selbst meist erst nach den Turnieren dazu komme, das Erreichte so richtig zu genießen.
"Matildas" beschäftigen sogar die Politik
Welche Rolle die "Matildas" mittlerweile in Australien spielen, verdeutlicht ein Schlagabtausch in der australischen Politik. Premierminister Anthony Albanese hatte jüngst angekündigt, es könnte einen zusätzlichen gesetzlichen Feiertag geben, wenn die Fußballerinnen den WM-Titel gewinnen. Nun schoss Peter Dutton zurück. Der Anführer der Opposition sprach von einem PR-Gag seines Kontrahenten. Ein gesetzlicher Feiertag würde die Wirtschaft zwei Milliarden Dollar kosten. Stattdessen schlug Dutton vor, 250 Millionen Fördermittel für öffentliche Sportanlagen zur Verfügung zu stellen.
Australiens Arnold: "Das ist nur der Anfang"
Mit solchen politischen Streitigkeiten müssen sich die Fußballerinnen nicht auseinandersetzen. Sie erhalten genug positive Nachrichten. "Wenn ich die Reaktionen sehe, die wir von überall aus dem Land bekommen, fühlt sich das unwirklich an", beschrieb Torhüterin Arnold. "Und das ist nur der Anfang. Ich glaube, da wird noch viel kommen."
Dabei helfen könnte natürlich der Einzug der "Matildas" ins WM-Finale. Aber ein Ziel haben sie schon erreicht. "Wir hatten uns vorgenommen, die neue Generation zu inspieren", so Arnold. "Und ich glaube, wir haben schon mehr als das geschafft. Wir haben mehr erreicht, als wir für möglich gehalten haben."
- Englands Weg ins Halbfinale: Vorrunde: 1:0 gegen Haiti, 1:0 gegen Dänemark, 6:1 gegen China; Achtelfinale: 4:2 i.E. gegen Nigeria; Viertelfinale: 2:1 gegen Kolumbien
- Spiele gegeneinander: 6 (2 Siege Australien / 3 Siege England / 1 Unentschieden)
- FIFA-Weltrangliste: Australien - Platz 10 / England - Platz 4
- Beste WM-Platzierung: Australien - Halbfinale 2023 / England - Platz vier 2019
- Fun Fact: Sarina Wiegman hat nur eines ihrer 37 Spiele als Englands Nationaltrainerin verloren. Das war im April dieses Jahres - bei der 0:2-Testspielpleite gegen Australien. Die Tore für die "Matildas" erzielten Sam Kerr und Charlotte Grant.