Australien-Trainer Tony Gustavsson

Vor WM-Halbfinale gegen England Trainer Gustavsson - aus der zweiten Reihe ins Herz der Australier

Stand: 15.08.2023 13:33 Uhr

Aus der zweiten Reihe an die Spitze: Australiens Coach Tony Gustavsson beeindruckt bei der Heim-WM mit Fachwissen und Charisma. Er könnte seine Karriere jetzt krönen. Gegen England spielt sein Team am Mittwoch (16.08.2023, 12 Uhr MESZ, im livestream auf sportschau.de) um den Einzug ins WM-Finale.

Von Bernd Schmelzer, Sydney

Tony lacht, Tony weint, Tony schreit, tanzt, feiert. Und dann analysiert Tony, ist konzentriert, findet die richtigen Worte und wirkt wie ein Elder Statesman. Australiens Nationaltrainer Gustavsson zeigt viele Gesichter in diesen Tagen der WM. Von wegen kühler Schwede, er elektrisiert geradezu ein ganzes Land.

"Ihr seid ein Teil des Sieges"

Nach dem Elfmeter-Drama gegen die Französinnen brüllte er Richtung Fans in die Fernsehkameras, als ob es kein Morgen gäbe. "Danke, danke für alles, für den Glauben an die Mannschaft, für die Unterstützung der Mannschaft. Ihr seid ein Teil des Sieges. Jeder Einzelne von euch in diesem Land ist seit heute Teil dieser Mannschaft!" Ein Trainer außer Rand und Band, herrlich menschlich und so angenehm anders in einer ansonsten glatt gebügelten Welt des Fußballs. 

Gustavsson zu Fans - "Ihr gehört zu diesem Team"

Sportschau, 12.08.2023 14:19 Uhr

Der "ewige Co" steht plötzlich im Rampenlicht. Tony Gustavsson, der am Montag seinen 50. Geburtstag in Sydney feierte, agierte als Spieler im Sturm, ohne national oder international nachhaltig in Erinnerung geblieben zu sein. Doch parallel zu seiner Fußballer-Laufbahn begann Gustavsson frühzeitig mit einer akademischen Trainerausbildung.

Als Co-Trainer von Sundhage in die USA

Im April 2010 übernahm er in Norwegen den Erstligisten Kongsvinger IL, um zwei Jahre später seiner schwedischen Kollegin Pia Sundhage zu folgen - und zwar in die USA. Die holte ihn als Spezialtrainer für die Defensive in ihr Team. Mit großem Erfolg, denn im Sommer 2012 gewannen die USA beim olympischen Fußballturnier in London die Goldmedaille.

"Seit diesem Zeitpunkt verfolge ich die Entwicklung im internationalen Frauenfußball", erinnert er sich auf der Abschlusspressekonferenz vor dem Halbfinale gegen England. "Und es hat sich so enorm viel getan." Unmittelbar nach Olympia in London wechselte Gustavsson jedoch wieder nach Schweden, als Trainer zu Tyresö FF in die höchste Frauenliga. 

Aus der Pleite in den Fußballhimmel

Was er dann erlebte, ist fast schon beispiellos. Seine Mannschaft gewann den Meistertitel, stand 2014 sogar im Finale der UEFA Champions League der Frauen und verlor 3:4 gegen den VfL Wolfsburg. Auf die vielen Feiern nach den Erfolgen folgte der komplette Absturz. Tyresö war zahlungsunfähig, Pleite, aus und vorbei. "In diesem Moment merkst du erst, dass es auch um mehr gehen kann als um Geld", bilanziert der Schwede rückblickend.

Er habe mit seinem Team damals so viel erreicht, obwohl die Zahlungen an Spielerinnen und Trainerteam ausgeblieben seien. Auch so etwas präge einen, da ist er sich sicher. Danach ging es für Gustavsson steil bergauf. Er wechselte erneut in den Trainerstab der US-amerikanischen Frauennationalmannschaft unter der neuen Cheftrainerin Jill Ellis. Dort galt er als Mastermind hinter den Kulissen. Die US-Amerikanerinnen beherrschten den Weltfußball in der Folge, gewannen 2015 und 2019 jeweils den WM-Titel. Als Ellis ihre Tätigkeit beendete, war auch Gustavssons Reise in den USA vorbei.

Fehlstart mit Australien

Doch schon ein Jahr später riefen ihn die Australier. Der Co wurde zum Chef. Sein Start verlief jedoch alles andere als optimal. Die Corona-Pandemie verschob den Einstand an der Seitenlinie von September 2020 auf April 2021. Sein erstes Spiel stieg schließlich in Wiesbaden gegen Deutschland: 2:5 aus Sicht der Australierinnen, die erst wenige Tage zuvor zusammenkommen durften. Autsch!

Was dann folgte, ist ein Prozess, wie er es heute beschreibt. "Wir mussten lernen, wie gut wir sind", bilanziert er dieser Tage und sein Team scheint es wirklich recht schnell gelernt zu haben. 

Gustavsson hat ganz offensichtlich einen klaren Plan. Selbst die Verletzung der besten Spielerin der "Matildas", Sam Kerr, bringt ihn nicht aus dem Konzept. Im Gegenteil. Auch ohne Kerr wirken die Australierinnen wie eine verschworene Gemeinschaft. Schon vor einem Jahr sagte er: "Wenn du an etwas glaubst, dann kannst du es schaffen, dann kann es eine interessante WM werden."

Freiheiten für die Spielerinnen

Sein Motto: Nicht over-coachen, will heißen: nicht schematisieren, die Spielerinnen einengen, sondern ihnen Freiheiten lassen. Und: Immer alle mitnehmen, auch diejenigen, die nicht in der ersten Reihe stehen. "Die Startelf ist wichtig, aber noch wichtiger sind die, die das Spiel beenden", schmunzelte der Schwede vor dem Eröffnungsspiel der WM, was er auch vor der Partie gegen die Engländerinnen wiederholte.

Inzwischen wissen alle, was er damit meinte. "Erfolg definiert sich nicht nur durch die glänzende Medaille, die um deinen Hals hängt, sondern darüber, was auf der Rückseite eingraviert ist", flüsterte Gustavsson nach dem Spiel gegen Frankreich spürbar angefasst bei der Pressekonferenz ins Mikrofon. "Und dort, auf der Rückseite, da steckt das Herzblut drin." Philosophieren kann er auch, der Tony Gustavsson. 

"Wir sind bereit, Geschichte zu schreiben"

Seit Tagen flimmern Bilder und Aussagen von ihm durch die australische TV-Landschaft, jede Nachrichtensendung berichtet über die "Matildas", über Gustavsson, der für diesen Erfolg steht. Auch im Radio und in den Zeitungen sprechen und schreiben sie ununterbrochen über die australischen Fußballerinnen, die erstmals in ihrer Geschichte ein WM-Halbfinale erreicht haben.

"Wir sind bereit, Geschichte zu schreiben", sagt Gustavsson mit vollster Überzeugung und fügt hinzu: "Die Engländerinnen sind die Favoritinnen, sie spielen fast alle in der besten Liga der Welt, haben dort Stammplätze in ihren Vereinen. Aber wir haben unsere Fans im Rücken, mit ihrer unfassbaren Unterstützung."

Dann schaut er für einen Moment etwas staatsmännisch - um kurz darauf wieder zu lächeln. In fast 30 TV-Kameras, die zu dieser Pressekonferenz aufgebaut wurden. Ausnahmezustand in Sydney und mittendrin der charismatische Tony Gustavsson, der auf dem besten Weg ist, sich in Australien ein Denkmal zu setzen. 

Dieses Thema im Programm: Das Erste | Sportschau FIFA Frauen WM | 16.08.2023 | 11:20 Uhr