"Last Woman Standing" England-Trainerin Sarina Wiegman und ihr Final-Rezept
Zwölf Trainerinnen waren in die Frauen-WM 2023 in Australien und Neuseeland gestartet. Schon seit dem Viertelfinale aber ist Sarina Wiegman die letzte verantwortliche Frau an der Seitenlinie. Die Niederländerin schickt sich an, mit England ihr viertes Finale bei einer WM oder EM in Serie zu erreichen.
Wenn es auf dem Fußballplatz hoch hergeht, reicht Keira Walsh oft ein Blick zur Seitenlinie, um neuen Mut zu schöpfen. Da steht dann ihre Trainerin Sarina Wiegman - oft stoisch mit den Händen hinter dem Rücken. "Wenn wir so richtig den Druck spüren, sieht sie so aus, als ob sie ihn nicht bemerkt. Das kann einen wirklich beruhigen, wenn man auf dem Rasen steht", beschreibt die englische Mittelfeldspielerin und fügt hinzu: "Sie kann uns den Extra-Schub geben, den man manchmal in schwierigen Spielen braucht - wie wir sie jetzt bei der WM erleben."
Wir wussten, dass wir die taktisch beste Trainerin der Welt verpflichten. Was wir nicht wussten, war, dass wir diesen außergewöhnlichen Menschen bekommen.
Wiegman kann sich sehr gut in die Spielerinnen hineinversetzen: Sie absolvierte in ihrer aktiven Karriere selbst 104 Länderspiele für die Niederlande. Die 53-Jährige hat aber auch längst bewiesen, dass sie eine ausgezeichnete Trainerin ist - was nicht zuletzt ihre drei Titel als Welttrainerin des Jahres belegen.
Gewinnen die "Lionesses" am Mittwoch (16.08.2023, 12 Uhr MESZ, live im Ersten und auf sportschau.de) im Halbfinale gegen Australien, würde Wiegman ihrer beeindruckenden Karriere ein weiteres Kapitel hinzufügen.
So viele WM-Trainerinnen wie nie zuvor
Dass die Fußballlehrerin in Australien und Neuseeland erfolgreich sein würde, war zu erwarten gewesen. Nicht aber, dass sie als Frau auf der Trainerbank derart im Fokus stehen würde. Denn die WM hatte mit so vielen Trainerinnen begonnen wie noch nie: zwölf an der Zahl waren es - nach neun vor vier Jahren in Frankreich. Damals waren allerdings auch noch acht Nationen weniger dabei.
Pia Sundhage (Brasilien)
Shui Qingxia (China)
Amelia Valverde (Costa Rica)
Martina Voss-Tecklenburg (Deutschland)
Sarina Wiegman (England)
Vera Pauw (Irland)
Milena Bertolini (Italien, zurückgetreten)
Bev Priestman (Kanada)
Jitka Klimkova (Neuseeland)
Hege Riise (Norwegen)
Inka Grings (Schweiz)
Desiree Ellis (Südafrika)
Schon die WM-Vorrunde überstanden in Australien und Neuseeland mit Hege Riise (Norwegen), Inka Grings (Schweiz), Desiree Ellis (Südafrika) und eben Wiegman allerdings nur vier Trainerinnen. Und für die drei Erstgenannten war dann im Achtelfinale Endstation. Wiegman ist nun also "Last Woman Standing" im Turnier.
Wiegman: "Brauchen weitere Trainerinnen auf Top-Level"
Als die Niederländerin vor dem Viertelfinale gegen Kolumbien (2:1) darauf angesprochen wurde, dass es nur noch einen weiblichen, aber noch sieben männliche Coachs im Turnier gibt, wehrte sie ab: "Wissen Sie, ich bin so sehr mit meiner eigenen Reise bei dieser WM beschäftigt, dass ich dazu gar nichts sagen kann", erklärte Englands Nationalstrainerin, stoppte kurz und fügte noch kurz hinzu: "Aber wir brauchen mehr Trainerinnen auf Top-Level, damit weitere Frauen Trainerin werden."
Trainerin oder Trainer? Qualität und Kompetenz!
Jamaikas Lorne Donaldson bekam bei seiner Viertelfinal-Pressekonferenz eine ähnliche Frage gestellt. Es interessiere ihn nicht, ob unter den übrigen Trainern mehr Frauen oder Männer sind. Es gehe um die Qualität.
Und die deutsche Nationalspielerin Ann-Katrin Berger sagt, sie würde es zwar schön finden, noch mehr Frauen als Trainer zu sehen, es komme aber vor allem auf die Kompetenz an.
Nach 2011 gingen alle Titel an Trainerinnen
Es gibt allerdings eine bemerkenswerte Statistik: Nach dem japanischen WM-Triumph 2011, als Norio Sasaki sich sozusagen im Coach-Duell mit Pia Sundhage (USA) durchgesetzt hatte, haben bei Europa- und Weltmeisterschaften sowie Olympischen Spielen nur noch Nationen den Titel geholt, bei denen eine Trainerin auf der Bank gesessen hat. Von Sundhage (2012) über Silvia Neid (2013, 2016) und Jill Ellis (2015, 2019) bis Bev Priestman (2021).
Und eben Wiegman, die nicht nur mit den Niederlanden (2017) und England (2022) die Europameistertitel gewonnen hat, womit sie die Erste war, der dieses Kunststück mit zwei Nationen gelungen ist. Wiegman stand mit den Niederlanden auch im WM-Finale 2019. Das verlor der "Underdog" zwar mit 0:2. Die Partie am Sonntag (20.08.2023) in Sydney könnte für Wiegman nun aber ihr viertes Endspiel werden.
Spielerinnen loben Wiegman in höchsten Tönen
Als Spielerin des FC Chelsea und Lebensgefährtin von Verteidigerin Jess Carter hat die deutsche Torhüterin Berger einen guten Draht zum englischen Team. "Was ich auch von den Mädels immer wieder höre, war das ein richtig guter Schritt vorwärts, Wiegman zu verpflichten - für die Liga und für die Mädels bei der Nationalmannschaft", erklärt "Insiderin" Berger. "Mit ihrer Erfahrung, aber auch, um eine andere Kultur reinzubringen. Das unterschätzen viele Leute."
Sarina ist immer froh, mit den Mädels zusammen zu sein. Und ich glaube, man sieht den Mädels an, dass alle gern für sie spielen.
Wiegman trifft bei ihren Spielerinnen auch bei der WM den richtigen Ton und offenbar für das Team die richtigen Entscheidungen. Dass der Tross im Badeort Terrigal sein Quartier bezogen hat, kam genauso gut an, wie, dass man sich nicht abgeschottet hat. "Es ist schön, dass unsere Familien hier sein können", erklärte Walsh, die ihre Trainerin als "ziemlich entspannt" beschreibt: "Sie agiert sehr logisch, hat immer einen klaren Plan und eine deutliche Vorstellung, wie die Sachen laufen sollen."
Knackt das "Superhirn" auch Australien?
Die Zeitung "The Independent" nannte Wiegman einst "das Superhirn". Für ihr Team ist sie so etwas wie der Fels in der Brandung. Doch der hat eine kleine Delle. 37 Spiele hat Wiegman seit ihrem Amtsantritt im September 2021 mittlerweile mit den "Lionesses" absolviert. Es gab nur eine Niederlage in einem Testspiel im vergangenen April - ausgerechnet gegen Australien (0:2).
Trotzdem gehen Wiegman und Co. das Halbfinale gut gelaunt an. "Sarina ist immer froh, mit den Mädels zusammen zu sein. Und ich glaube, man sieht den Mädels an, dass alle gern für sie spielen", betont Walsh.
Gute Laune: Englands Trainerin Sarina Wiegman (r.) mit Torhüterin Mary Earps.