Die deutsche Sprinterin Gina Lückenkemper
analyse

Bilanz von Budapest "Worst Case" - Deutsche Leichtathleten ohne WM-Medaille

Stand: 28.08.2023 16:25 Uhr

Eine Leichtathletik-WM ohne deutsche Medaille - das gab es noch nie. Das DLV-Team präsentierte sich in Budapest in der Breite besser als im vergangenen Jahr in Eugene, hat aber den Anschluss an die Weltspitze verloren. DLV-Präsident Jürgen Kessing sprach vom "Worst Case". Doch es gibt auch Hoffnung.

Von Bettina Lenner, Budapest

Null Medaillen. Klingt verheerend. Schon bei der WM im vergangenen Jahr in Eugene war nur zwei Mal Edelmetall ein historischer Tiefpunkt gewesen. Nun sprang kein einziger Podestplatz für das 70-köpfige deutsche Team heraus. Das müssen auch die Verantwortlichen im Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) erst einmal verdauen. "Wir sind nicht hierhergekommen, um wieder mit leeren Händen nach Hause zu gehen", konstatierte Verbandspräsident Jürgen Kessing.

Webers vierter Rang bleibt die beste Platzierung

Der 66-Jährige hatte am Sonntag (27.08.2023) lange gehofft, "dass uns Julian vielleicht noch erlöst". Doch dazu kam es nicht. Am letzten Wettkampftag platzte mit Speerwerfer Julian Weber die letzte Hoffnung auf einen einigermaßen versöhnlichen Abschluss: wieder Platz vier für den Europameister, der als einer der wenigen Medaillenanwärter im von Ausfällen gebeutelten Team gegolten hatte.

In Olympiasiegerin Malaika Mihambo musste die Titelverteidigerin im Weitsprung passen, auch die Bronze-Staffel von Eugene um Doppel-Europameisterin Gina Lückenkemper konnte nicht in Bestbesetzung antreten. Platz sechs für die Sprinterinnen war unter diesen Umständen ein sehr respektables Ergebnis.

Geher Linke mit zwei deutschen Rekorden

Auch andere überzeugten. Wie Geher Christopher Linke, der bei seinen beiden fünften Plätzen trotz brütender Hitze und hoher Luftfeuchtigkeit gleich zwei deutsche Rekorde aufstellte - seine Zeit über 20 km hätte außer 2003 in Paris immer für Edelmetall gereicht.

Oder Hochspringer Tobias Potye, der nach einem starken Wettkampf nur um einen Fehlversuch an Bronze vorbeisprang. Zehnkampf-Shootingstar Leo Neugebauer, der sich im Juni den 39 Jahre alten deutschen Rekord von Jürgen Hingsen geschnappt hatte, lag nach Tag eins sogar auf Goldkurs und wurde am Ende ebenfalls Fünfter.

Deutlich mehr Top-8-Platzierungen als in Eugene

Das größte Sportereignis in der Geschichte Ungarns war ein riesiges Fest, die DLV-Athletinnen und Athleten waren hochmotiviert und lieferten in den meisten Fällen auch ab. Joshua Abuaku erreichte als erster Hürdenläufer über 400 m seit Harald Schmid vor 36 Jahren mit Bestzeit wieder das Finale.

U23-Europameisterin Olivia Gürth freute sich beim WM-Debüt über zweimal Bestleistung über 3.000 m Hindernis, im Finale lief sie deutschen U23-Rekord. Sophie Weißenberg verpasste im besten Siebenkampf ihrer Karriere als Siebte eine Medaille um 63 Punkte.

Neun persönliche Bestmarken und acht Saison-Bestleistungen schlugen am Ende zu Buche, insgesamt gab es 13 Top-8-Platzierungen und damit sechs mehr als bei den Welt-Titelkämpfen in den USA.

Lückenkemper: "Extrem viele gute Leistungen"

Keine schlechte Bilanz, und so stellte sich Lückenkemper vor ihre Teamkollegen: "Ich habe das deutsche Team als sehr kämpferisch sowohl im Hotel als auch im Stadion erlebt. Wir haben extrem viele gute Leistungen dabeigehabt und Zeiten gebracht, die in den Vorjahren immer zu einer Medaille gereicht hätten, aber dieses Jahr nicht", sagte die DLV-Teamkapitänin. "Das schmälert aber die Leistung nicht."

Richtiger Frust kam tatsächlich nur selten auf. 200-m-Rekordmann Joshua Hartmann verzockte sich im Vorlauf leichtfertig und patzte auch in der Staffel beim Wechsel - bitteres Lehrgeld. 5.000-m-Läufer Sam Parsons stürzte im Vorlauf und war danach untröstlich, Lückenkemper wollte unbedingt ins Finale, kam aber als Solistin nach starken Vorleistungen ausgerechnet beim Saison-Höhepunkt nicht auf Touren.

Es reichte nicht für das große Rampenlicht

Die meisten DLV-Athleten waren aber tatsächlich auf den Punkt fit und schöpften ihr Potenzial aus - für das große Rampenlicht reichte es dennoch nicht. Mitten in der ausgelassenen Budapester WM-Party im neu gebauten Stimmungstempel "Nationales Leichtathletikzentrum", für den nach Angaben der Organisatoren mit mehr als 400.000 Karten fast 95 Prozent des Kontingents verkauft worden war, jubelten andere auf der Ehrenrunde, hörten andere die Nationalhymne.

Ich kann mich nicht an bessere Stimmung bei einer WM erinnern.
Weltverbands-Präsident Sebastian Coe

Große Show von Lyles, Duplantis und Co

Allen voran US-Star Noah Lyles, der als erster Leichtathlet seit Usain Bolt 2015 das WM-Triple über 100 m, 200 m und mit der Staffel gewinnen konnte und ein echter Typ ist. Zu den Zeiten des legendären Jamaikaners fehlt aber noch ein Stück.

Der schwedische Überflieger Armand Duplantis, der nur knapp am eigenen Weltrekord vorbeiflog, begeisterte einmal mehr mit seiner Stabhochsprung-Show, über 400 m Hürden tankte sich Norwegen-Express Karsten Warholm zum dritten WM-Titel und der italienische Publikumsliebling Gianmarco Tamberi ließ sich im Hochsprung von den vollbesetzten Rängen nach geteiltem Olympia-Gold auch zum ersten WM-Titel tragen.

Bei den Frauen dokumentierte die zweimalige Olympiasiegerin Faith Kipyegon aus Kenia mit zweimal Gold über 1.500 und 5.000 m ihre Ausnahmestellung und sprach von der Motivation durch ihre fünf Jahre alte Tochter, bei den Sprinterinnen scheint die Zeit der schillernden Texanerin Sha'Carri Richardson gekommen zu sein, die über 100 m und mit der US-Staffel triumphierte. Dreispringerin Yulimar Rojas aus Venezuela verbuchte das vierte WM-Gold in Serie.

Den Anschluss an die Weltspitze verloren

Es muss aber nicht der Griff ins oberste Regal sein, um festzustellen: "Die Weltspitze hat sich signifikant weiterentwickelt. Selbst ein deutscher Rekord reicht nicht zur Medaille", so Jörg Bügner. Man habe in vielen Disziplinen den Anschluss an die Weltspitze verloren, räumte der DLV-Sportdirektor ein, auch in solchen, in denen Deutschland einst sehr erfolgreich war, wie Hammer, Diskus und Speer.

"In bestimmten Strecken haben wir nicht einmal mehr Starter gestellt, also in der Mittelstrecke beispielsweise. Warum sind wir dort nicht mehr präsent?", rätselte der DLV-Funktionär, der seit einem halben Jahr im Amt ist.

Kessing: Muss ein Ruck durch Sportdeutschland gehen

Die Konkurrenz wird aber nicht nur stärker, sondern auch mehr. 46 Länder trugen sich während der WM in den Medaillenspiegel ein. "Die Weltspitze ist deutlich breiter geworden", erklärte Kessing, der die WM ohne Medaille als "Worst Case" bezeichnete. "Wir sind damit nicht zufrieden, das ist klar.“

Der Verbandschef wünscht sich Unterstützung aus Berlin und plädierte für Olympische Spiele in Deutschland, um die Krise des deutschen Sports zu beenden. Um wieder konkurrenzfähig zu werden, müsse ein Ruck durch Sportdeutschland gehen.

Man solle die eine oder andere Milliarde in den Sport reinstecken für Kinder, um sie stark zu machen, forderte er. "Da muss der Sport insgesamt mal aufstehen, seine Stimme erheben und dafür kämpfen", ergänzte Kessing auch angesichts drohender Kürzungen ein Jahr vor den Olympischen Spielen in Paris.

Shootingstar Neugebauer einer der Hoffnungsträger

So oder so wollen die deutschen Athleten an der Seine wieder auf dem Treppchen stehen - und die Chancen stehen besser, als es nach einem Blick auf den Medaillenspiegel von Budapest vielleicht den Anschein hat. Neugebauer, Potye oder Weißenberg sind frische Hoffnungsträger, im Bereich der Besten ihrer Zunft und haben in Ungarn wichtige Erfahrungen gesammelt.

"Wenn ich gesund bleibe, dann gibt es kein Limit", sagte College-Student Neugebauer, der abseits der Verbandsmaßnahmen an der finanzkräftigen University of Texas eine imposante Leistungsentwicklung hingelegt hat, und auch Potye hat klare Vorstellungen, wo er im kommenden Jahr landen will: "Ganz oben."

Zudem könnten Top-Athleten wie Mihambo oder 2019-Weltmeister Niklas Kaul, der den Zehnkampf in Budapest auch mit Blick auf Paris mit einer Fußblessur vorzeitig abbrach, ins Team zurückkehren.

Bügner: "In Paris wird abgerechnet"

"Es ist ein Jahr bis zu den Olympischen Spielen. Da gibt's dann keine Ausreden mehr. In Paris wird abgerechnet", sagte Bügner, der nach dem schwachen Abschneiden in Eugene verpflichtet worden war und viel Arbeit vor sich sieht: "Wir gehen mit einer Menge Aufgaben nach Hause. Wir müssen kritisch hinterfragen, warum wir nicht mehr an der Stelle sind, wo wir schon einmal waren."

Man müsse auch zu den Nachbarn schauen. Großbritannien, die Niederlande - "es gibt ja durchaus europäische Länder, die dort erfolgreich sind. Warum kommen wir nicht dahin?"

Wir haben ein Wahnsinns-Know-how in diesem Verband, aber wir haben die PS noch nicht auf die Straße gebracht.
DLV-Sportdirektor Jörg Bügner

"Aufgeben ist keine Option"

Antworten muss der Verband zügig finden und auch entschlossen handeln, wenn er sein ehrgeiziges Ziel erreichen will: bis zu Olympia 2028 in Los Angeles wieder zu den Top fünf der Nationenwertung zu gehören.

Immerhin, der Nachwuchs ist vorhanden. Mit 23 Medaillen, davon acht aus Gold, war die DLV-Mannschaft gerade erst bei der U20-Junioren-EM die mit Abstand erfolgreichste Delegation. Doch die Talente erfolgreich in den Erwachsenen-Bereich zu führen, hat in der Vergangenheit oft nicht funktioniert. "Man braucht Zeit", sagte Linke, und Bügner gibt sich kämpferisch: "Aufgeben ist keine Option."

Dieses Thema im Programm: Das Erste | Sportschau | 20.08.2023 | 07:00 Uhr