Mütter in der Leichtathletik Zwischen Schlafmangel und Training
Melat Kejeta ist bei der Leichtathletik-WM die einzige Mutter im deutschen Team. 15 Monate nach der Geburt ihrer Tochter startete sie in Budapest im Marathon und wurde starke Elfte - trotz des fordernden Spagats zwischen Leistungssport und Kind. Viele Athletinnen machen Frauen Mut, dass eine Schwangerschaft nicht das Karriereende bedeuten muss.
Melat Kejeta liebt das Laufen. "Ohne Laufen kann ich nicht leben", erklärte sie einmal. Und sie liebt es, Mutter zu sein. Töchterchen Hermona ist immer dabei. Auch in Budapest. "Sie ist mein ganzes Glück", sagt sie.
Als die Athletin vom Laufteam Kassel vor zwei Jahren im olympischen Marathon in Sapporo sensationell auf den sechsten Platz lief, ahnte sie noch nicht, dass sie zu diesem Zeitpunkt schwanger war. Als sie es dann erfuhr, sei das "ein Schock" gewesen. "Aber dann habe ich gedacht, es ist ein Geschenk Gottes", sagte die deutsche Marathonläuferin, die aus Äthiopien stammt, der Sportschau. Und so nannte sie ihre Tochter Hermona - das bedeutet "Geschenk Gottes".
Ein Jahr nach der Geburt in Ottawa am Start
Natürlich warf sie die knapp zweijährige Babypause in ihrem Sport zurück. Die Rückkehr auf das alte Leistungsniveau ist beschwerlich, und dass sich die Vize-Weltmeisterin im Halbmarathon 2020 überhaupt für Budapest qualifizieren konnte, ist schon ein Erfolg an sich. Ein Jahr nach der Geburt hatte sie erstmals wieder an der Startlinie eines Marathons gestanden, in Ottawa kam sie im Mai in 2:27:50 Stunden ins Ziel und blieb zehn Sekunden unter der WM-Norm.
Die Herausforderungen sind immens
Ein Trainingspensum von 160 Kilometern pro Woche absolvierte die 30-Jährige zuletzt im Vorfeld der WM im achtwöchigen Höhentraining im kenianischen Iten. Dort unterstützte sie ein Kindermädchen, in Ungarn ist der Freund und Vater des Kindes dabei, daheim in Ahnatal hilft Brigitte Aufenanger, die Frau ihres im Oktober 2021 verstorbenen Trainers Winfried Aufenanger.
Dennoch sind die Herausforderungen immens. Das Training und die Reisen, stundenlang mit dem Kind auf dem Schoß. Vor allem nachts sei es schwierig, schilderte Kejeta, es mangelt an Schlaf: "Sie wird drei- bis viermal wach und ich muss schon wieder um 6 Uhr zum Training."
Die Doppelbelastung nimmt sie indes nur allzu gern in Kauf. "Ich habe Kinder immer geliebt. Ich möchte nun noch härter arbeiten, für sie und meine Familie." Ihre Tochter ist zum Zentrum ihres Lebens geworden, der sportliche Ehrgeiz geblieben und die Leichtathletik auch Beruf.
Fraser-Pryce: Erst geweint, dann Geschichte geschrieben
Dass eine Schwangerschaft nicht das Karriereende bedeuten muss, haben schon einige Athletinnen eindrucksvoll bewiesen. Sie habe weinend auf dem Bett gesessen, als sie von ihrer Schwangerschaft erfuhr, berichtete die jamaikanische Sprint-Legende Shelly-Ann Fraser-Pryce, schließlich befand sie sich seinerzeit mitten in der Vorbereitung auf die WM in London, wo sie ihren Titel über 100 m erfolgreich verteidigen wollte.
Daraus wurde nichts. 2017, einen Tag nach dem WM-Finale, kam Sohn Zyon zur Welt - und "Pocket Rocket" erfolgreich zurück. Zwei Jahre später schrieb die damals 32-Jährige in Doha Geschichte, als sie als erste Mutter und älteste Athletin aller Zeiten zu WM-Gold sprintete, auch im vergangenen Jahr triumphierte sie in Eugene.
"Ein Sieg der Mutterschaft", schrieb sie 2019 bei Facebook, ihr Sohn sei eine Motivation. "Mutter zu sein, nimmt dir nicht deine Fähigkeiten oder schränkt sie ein. Wir Frauen können schaffen, was wir uns vornehmen." In Budapest gewann die dreimalige Olympiasiegerin und zehnmalige Weltmeisterin mit 36 Jahren über 100 m Bronze sowie mit der Staffel Silber.
Miller-Uibos WM-Start vier Monate nach Geburt
Weltrekordlerin Faith Kipyegon siegte an der Donau über 5.000 und 1.500 m. "Ich habe geduldig darauf gewartet, Weltrekorde brechen und Doppelgold gewinnen zu können", sagte die 29-jährige Kenianerin. "Meine Tochter unterstützt mich großartig, sie sagt mir immer, dass ich es schaffen kann", sagte sie über ihre fünf Jahre alte Tochter Alyn. "Sie gab mir noch einmal einen völlig neuen Motivationsschub."
Titelverteidigerin Shaune Miller-Uibo von den Bahamas ging bei der WM in Budapest gar nur vier Monate nach der Geburt ihres Sohnes Maicel über 400 m an den Start - und jubelte nach ihrem Vorlauf-Aus: "Es macht so viel Spaß, zurück auf der Bahn zu sein. Es war aufregend und ich habe es genossen. Ich habe es so vermisst."
Im kommenden Jahr möchte die Olympiasiegerin von Tokio, die nach jetzigen Plänen dann noch stillen will, in Paris erneut Gold holen: "Mein Körper hat sich etwas verändert, aber ich fühle mich auch stärker. Es braucht Zeit, aber die wichtigste Botschaft ist: 'Wir kommen zurück!'"
Kejeta: "Sie gibt mir Kraft"
Kejeta rechnet damit, dass sie eineinhalb Jahre braucht, um wieder auf ihr Top-Niveau zu kommen. In Budapest belegte sie im erst vierten Marathon ihrer Karriere trotz der ungeliebten Hitze nach einem sehr guten Rennen in 2:29:04 Stunden den elften Platz. Das große Ziel ist die Olympia-Qualifikation für Paris 2024, in Anbetracht der starken nationalen Konkurrenz kein leichtes Unterfangen. Helfen soll dabei auch Töchterchen Hermosa, "sie gibt mir Kraft".
Königstein: "Wünsche mir eine Ansprechperson"
Gemeistert hat die Norm von 2:26:50 Stunden schon Fabienne Königstein. Nur neun Monate nach der Geburt ihrer Tochter Skadi steigerte die 30-Jährige ihre persönliche Bestzeit im Mai in Hamburg um fast sieben Minuten auf 2:25:48 Stunden - Platz sechs der ewigen deutschen Bestenliste.
Die Mannheimerin ist ein starkes Team mit ihrem Mann Karsten Königstein, doch die Vereinbarkeit von Sport und Familie ist ihr großes Thema. "Ich wünsche mir eine Ansprechperson für Frauen in der Schwangerschaft und auch für Athletinnen, die danach wieder zurück in den Sport finden wollen. Jemand, der das Training kompetent begleiten kann, falls Fragen da sind. Da sind die Athletinnen aktuell auf sich allein gestellt", monierte sie im SWR.
Kejeta trainierte einfach drauflos
Auch Melat Kejeta - zumal ohne Trainer - war orientierungslos und fing direkt nach der Geburt wieder mit dem Laufen an. Wohl ein wenig zu früh und zu intensiv, der Körper hatte sich verändert und sie mit Hüft- und Beckenproblemen zu kämpfen.
"Ich wusste es nicht besser. Es wäre sicher besser gewesen, langsam anzufangen mit Gym und Fitness", weiß sie heute. Mit Hilfe von Physiotherapie und Aufbautraining hat sich die Situation gebessert, ein wenig sind die Schmerzen noch da. Ihre Bestzeit steht seit ihrem Marathon-Debüt 2019 in Berlin bei 2:23:57 Stunden.
Bundestrainer Kohls traut ihr den deutschen Rekord zu
Die WM in Budapest 15 Monate nach der Geburt war ein weiterer Schritt auf ihrem ambitionierten Weg, Marathon-Bundestrainer Matthias Kohls traut ihr perspektivisch sogar den deutschen Rekord zu (2:19:19, Irina Mikitenko 2008): "Das kann sie schaffen. Es gibt ja viele Athletinnen, die ihre Leistungen nach einer Schwangerschaft noch verbessern konnten."
Auch die Verbände sind gefordert
Sollte der Sprung nach Paris gelingen, dürfte Kejeta, die in Budapest in einem Apartment unweit des Teamhotels untergebracht ist, dort indes nicht die einzige deutsche Leichtathletin mit Kind sein. Königstein und auch die zweimalige Hindernis-Europameisterin Gesa Krause, die Ende April ihre Tochter Lola Emilia zur Welt brachte, machen sich ebenfalls schon Gedanken, wie sie alles unter einen Hut bringen können.
Und auch der Deutsche Leichtathletik-Verband sowie der Weltverband werden sich mit dem Thema intensiver auseinandersetzen müssen. "Das hat schon Auswirkungen auf die Organisation. Unterbringung, Anreise - da wird sich unser Team etwas einfallen lassen müssen", so Kohls.