Weltcup Skispringen Norwegen und Polen in der Krise und vor unsicherer Zukunft
Während die deutschen und österreichischen Skispringer Erfolge am laufenden Band feiern, ist der Saison-Start von Norwegen und Polen so richtig schiefgegangen. Beide Nationen sind meilenweit von der Weltspitze entfernt. In Norwegen wird sogar die Zukunft der Sportart hinterfragt.
Schwarz-Rot-Gold und Rot-Weiß-Rot dominieren den Skisprung-Weltcup. Auf den ersten sieben Plätzen im Gesamtklassement stehen deutschsprachige Springer. Logisch, denn bei den ersten vier Springen des Winters gingen die ersten fünf Plätze fast ausschließlich dorthin. Einzig der Japaner Ryoyu Kobayashi wurde in Lillehammer einmal Fünfter.
Der fachkundige Skisprung-Fan suchte in Ruka und Lillehammer vergebens nach Norwegern und Polen in den Top 10. Die traditionellen Top-Nationen tun sich extrem schwer - und das aus unterschiedlichen Gründen.
Was kommt in Polen nach der goldenen Ära?
Bei den Polen scheint die goldene Ära um Kamil Stoch und Dawid Kubacki schmerzhaft zu Ende zu gehen. Der dreimalige Olympiasieger und Vierschanzentournee-Sieger Stoch verpasste beim zweiten Springen in Ruka als 51. von 53 Springern die Qualifikation für den Endkampf, in Lillehammer sammelte er als 28. seine einzigen drei Weltcup-Punkte.
"So etwas ist in meiner Karriere noch nicht passiert. (...) Alle sind nervös und besorgt", sagte Stoch über die enttäuschenden Auftritte der Polen an den ersten beiden Wochenenden. Fast staatstragend wandte sich der 36-Jährige an das skisprungverrückte polnische Volk: "An dieser Stelle bitte ich die Fans, geduldig zu sein und an uns zu glauben."
Debakel in Ruka und Lillehammer
Viel Anlass zur Hoffnung gaben seine Teamkollegen auch nicht. Mit Dawid Kubacki (33) und Piotr Zyla (36) schafften es auch die anderen altgedienten Titelsammler nicht einmal unter die besten 20. Und das, obwohl Zyla bei der WM im letzten Winter noch auf der Normalschanze triumphierte und Kubacki auf der Großschanze auf Platz drei landete. Polens Trainer Thomas Turnbichler sprach bei Eurosport "von einem meiner härtesten Tage in meiner Trainerkarriere".
Die Jahre, in denen die Polen von der Substanz ihrer Topstars gezehrt haben, sind vorbei. Aleksander Zniszczoł (29) enttäuschte in Ruka und Lillehammer ebenfalls und wird in Klingenthal von Routinier Maciej Kot (32) ersetzt. Auch Stoch könnte aus dem Weltcup-Team rutschen. Doch weil die Alternativen fehlen, würde sein Startplatz vermutlich nicht einmal nachbesetzt werden.
Granerud und Co. weit weg von der Weltspitze
Sportlich enttäuscht haben auch die Norweger, nicht nur beim Heim-Weltcup am vergangenen Wochenende in Lillehammer. Halvor Egner Granerud liegt abgeschlagen auf dem 17. Platz in der Gesamtwertung. Vor einem Jahr gewann er diese noch, dazu triumphierte der 27-Jährige bei der Tournee und der Skiflug-WM.
Tande wettert gegen Jury: "Schlecht und unprofessionell"
Für Olympiasieger Daniel Andre Tande kam es noch dicker: Der 29-Jährige verpasste ausgerechnet in seiner Heimat bei seinem 200. Weltcup-Auftritt als 42. den zweiten Durchgang. Im Anschluss suchte Tande die Schuld bei der Jury. Diese hätte ihn bei "physikalisch unmöglichen" Bedingungen vom Balken gelassen: "Ich finde das einfach schlecht und unprofessionell."
Norwegens Sportdirektor Clas Brede Brathen wollte dies nicht als Ausrede zulassen. Der Chef der Skispringer hat derzeit ohnehin mit anderen Schlagzeilen zu kämpfen. Rund um die enttäuschenden Springen in Lillehammer musste sich Brathen gegen öffentliche Sticheleien aus den eigenen Reihen wehren.
Olympiasieger Grabaak stichelt gegen Skispringer
Jörgen Graabak, seines Zeichens viermaliger Olympiasieger in der Nordischen Kombination, brachte seinen Teamkollegen Jarl-Magnus Riiber beim norwegischen TV-Sender NRK ins Spiel: "Ich hätte mir gewünscht, er wäre heute im Spezialspringen angetreten. Wenn irgendjemand (Stefan) Kraft auf dieser Schanze schlagen kann, dann ist es Jarl."
Dieser halb ernstgemeinte Ratschlag kam bei Skisprung-Sportdirektor Brathen gar nicht gut an: "Ich denke, die anderen (norwegischen Kombinierer) sollten versuchen, Riiber einzuholen anstatt zu versuchen, ihn mit anderen zu vergleichen." Riiber dominiert in ähnlicher Weise wie Skispringer Stefan Kraft den Kombinations-Weltcup. Graabak, der in Lillehammer zweimal auf das Podest gelaufen war, konterte dies wiederum süffisant.
Ich denke, Clas Brede sollte diese Herausforderung lieber annehmen. Er und die anderen sollten besser sein als wir, aber im Moment glaube ich nicht, dass sie es sind. (...) Ich glaube, ich habe da vielleicht einen kleinen Nerv getroffen. Ich denke, das spricht für sich selbst.
Finanzielle Sorgen: Norwegen vor unsicherer Zukunft
Tatsächlich gibt es große Sorgen um die Zukunft des Wintersports. Dem gesamten norwegischen Skisport-Verband fehlt Geld - und zwar nicht zu knapp: Alleine für die Skispringer wird für das Jahr 2023 trotz der Erfolge von Granerud ein Defizit von rund einer Million Euro erwartet.
"Wir haben bereits so viele Kürzungen vorgenommen, dass wir sie als dramatisch empfinden", stellte Brathen im norwegischen TV-Sender NRK klar. "Kürzungen, die über das hinausgehen, was bereits gemacht wurde, werden als unverantwortlich und ungerecht empfunden." Die Skispringer befänden sich "am absoluten Existenzminimum, wenn wir unsere Vision 'Wir wollen die wichtigste Springernation der Welt sein' erfüllen wollen".
Norwegens Skisprung-Chef erwägt Teil-Austritt
Als Sparmaßnahme steht im Raum, dass das norwegische Team die eine oder andere Weltcup-Station aus Kostengründen auslassen könnte. Dagegen wehrt sich Brathen mit deutlichen Worten und bringt stattdessen die Abspaltung der Skispringer vom Dachverband ins Spiel. So sollen die Skispringer in wirtschaftlicher Hinsicht unabhängiger werden und sich selbst finanzieren.
Ob es dann auch sportlich wieder besser wird, ist wie bei den Polen unsicher. Die nächsten Weltcup-Springen könnten allerdings wieder zum Mutmacher werden. Die Schanzen in Klingenthal und Engelberg kommen den Skifliegern um Granerud und Co. deutlich mehr zupass. Gute Ergebnisse werden dringend benötigt, auch um die langfristigen und strukturellen Probleme ein wenig zu kaschieren.