Deutschlands Hindernisläuferin Olivia Gürth (3.v.l.) jubelt in ihrem Halbfinale zu früh und scheitert letztlich hauchdünn aus.
Kolumne

ARD-Experte Frank Busemann Gürth jubelt zu früh - "Ärgern und daran wachsen"

Stand: 04.08.2024 22:23 Uhr

Zu früh die Arme hochgerissen, die Konkurrentin schlüpft vorbei ins Ziel - und schon war Olivia Gürth im Vorlauf über 3000 Meter Hindernis raus. ARD-Experte Frank Busemann hat ein ähnliches Trauma erlebt.

Von Frank Busemann, Paris

Es ist schon lange her, sehr lange, um genau zu sein etwa 29 Jahre und vier Monate. Bei den Hallenweltmeisterschaften in Barcelona lief ich im Endlauf über 60 Meter Hürden und wollte richtig einen raushauen. Im Lauf merkte ich, dass nichts lief und ohne letzten Einsatz erreichte ich halbherzig das Ziel. Der sechste Platz, war nicht das, was ich wollte, aber manchmal ... Ich schaute auf die Anzeigetafel: Siebter. Noch schlimmer!

Panik, Frust, Enttäuschung. Das Zielfoto wurde eingeblendet. Ich auf der Außenbahn, laufe über die Ziellinie, der Finne auf Bahn zwei hechtet über die Linie, als ginge es um Leben und Tod. Dadurch war er ein paar Tausendstel vor mir. Weil er gekämpft und ich aufgegeben hatte! Er gab alles, ich nicht. Ich ärgerte mich maßlos. Dieses Zielfoto hatte sich in meiner Festplatte eingebrannt. 

Gürths Bestleistung nicht genug

Solche Sachen passieren. Bei der EM in Rom schnappte sich zum Beispiel eine spanische Geherin weit vor dem Ziel die Landesflagge und begann, ihre Bronzemedaille zu feiern. Im Schlussspurt wurde sie von einer Ukrainerin überholt und ging leer aus. Es gab vor Ewigkeiten mal einen 1500-Meter-Läufer, der zu früh seine vermeintliche Medaille bejubelte und im Ziel vom Teamkollegen abgenickt wurde.

Hier in Paris lief die junge Olivia Gürth einen fulminanten Vorlauf, musste unter die ersten fünf kommen, setzte sich im Spurt der Sechsergruppe auf Position vier, freute sich über die freigemachten Reserven und kurz vor dem Ziel über den Einzug ins Finale. Die Arme gingen nach oben, doch die Oberkörper der Gegnerinnen liefen knallhart 3000 Meter durch und nicht nur 2999 Meter. Am Ende fehlte ihr eine Hundertstel – sie wurde Sechste. Aus dem großen Q wurde ein: "Schön, dass du dabei warst!" Okay, Bestleistung, aber bei 2999,80 Metern war sie noch im olympischen Finale, bei 3000 Metern eben nicht mehr. 

Einfach mal verpokert

Es gibt Vorkommnisse, dass sich Athleten verpokern. Bei Olympischen Spielen im Schwimmen gab es mal den Fall, dass der Sieger des B-Laufes letztlich schneller war als der Olympiasieger, weil er im Vorlauf eine unbeobachtete Finalaußenbahn erschwimmen wollte. Es gibt diese Fälle, dass Sprinter in der Weltgeschichte umherschauen, weil sie echt gut drauf sind, das gern zeigen wollen und sich dann VERlaufen. Immer wieder und immer wieder passiert es in den Stadien der Welt. Aber warum? 

Fluchtmodus einstellen - falsches Signal

Manchmal ist es Selbst- oder Fehleinschätzung, manchmal ist es Unachtsamkeit und manchmal denkt man einfach, das geht schon gut. Es ist ähnlich wie die Überquerung einer Straße. Wir schauen, die Autos sind weit, wir laufen rüber, die Autos kommen näher und wenn man mal genau drauf achtet, man endet mit seinem Autofluchtsprint nicht an der Bordsteinkante, sondern ein, zwei, drei Schritte vorher. Das Unterbewusstsein sagt: Wir sind da, wir schaffen es, Fluchtmodus einstellen, ich werde heute NICHT überfahren. Auf diesen Zentimeter kommt es nicht an, wir sind gerettet. 

Der Erfinder des "Busemann-Divers"

Mit dem Ziel mag das ein ganz ähnlicher Reflex sein. Wir laufen, es läuft gut, richtig gut, die Anstrengung weicht der Freude und Erleichterung und wir beenden den Sprint ins Ziel VOR der Bordsteinkante. Feiern und Freude sind auch angenehmer als Qual und Anstrengung. Und dann kommt so ein Finne auf Bahn zwei und nickt einen ab. 

28 Jahre nach meinem Lauf habe ich ein Video vom Hallen-WM-Finale 1995 gefunden. Ich hatte es nie gesehen, nie sehen wollen, es war als dunkler Fehler in meinem Hirn abgespeichert. So ein selbst verschuldeter Fauxpas sollte mir nie wieder passieren. Seit diesem Erlebnis hechtete ich bei jedem wichtigen, aber auch noch so unwichtigen Lauf ins Ziel, als gäbe es kein Morgen mehr.

Egal, wie groß mein Vorsprung, aussichtslos meine Lage, unbedeutend der Volkslauf war, ich rannte immer diesen einen Meter hinter die Ziellinie, mit einem fiesen Zieleinwurf, der mich zum Erfinder des "Busemann-Divers" machte. Manchmal endete der Diver als Bauchfletscher. Aber abends im Bett wusste ich immer: Es war nicht mehr drin. Keine Zehntel, keine Hundertstel, keine Tausendstel. 

Dabei hat mir dieses Erlebnis geholfen und der Finne auf Bahn zwei war verantwortlich dafür, dass ich nie wieder einen Sieg oder eine Platzierung herschenkte. So sicher oder unbedeutend das Ergebnis auch schien. 

Ärgern und daran wachsen

Dann ließ ich das Video durchlaufen und sah, dass der Finne auf Bahn zwei an der letzten Hürde strauchelte, er kämpfte, er verlor das Gleichgewicht, er stürzte ins Ziel wie Superman. Ein Arm nach vorn, zum Ausgleich. Ein Überlebenskampf. Ich lachte: Mein erlernter Kampfmodus basierte auf einem Irrtum! Ich glaubte jahrelang, der Finne hätte mich durch selbst initiierten Kampf niedergerungen, weil er alles in die Waagschale warf, hat er mich geschlagen. Im entferntesten Sinne hat er das auch gemacht, aber nicht um mich zu schlagen, sondern selbst nicht auf die Klappe zu fliegen. 

Solche Sachen passieren! Immer wieder. Man macht einen Fehler. Man darf sich ärgern, man muss sich ärgern. Ein jeder Athlet muss aber seine Lehren daraus ziehen und daran wachsen. Dieser Fehler passiert dann nicht noch einmal. Nie wieder. 

Dieses Thema im Programm: Das Erste | Sportschau Olympia 2024 | 04.08.2024 | 08:45 Uhr