Das Radsport-Jahr 2024 Unglaublich, Teil 1 bis 5 - Pogacar und der Rest
Es gibt Planer wie Jonas Vingegaard und sein Team. Und es gibt Tadej Pogacar. Revoluzzer auf dem Rennrad, ein Freigeist, der sich wahnwitzige Solos zutraut und sie auch durchsteht. Das Radsport-Jahr 2024 gehörte ihm ganz allein – fast.
Strade Bianche
Das Rennen, das am 2. März über weiße Schotterwege rund um Siena in der hügeligen Toskana führte, nutzte Tadej Pogacar für eine erste Demonstration seiner surrealen Stärke. Er hatte zuvor angekündigt, in einem schweren Gravel-Sektor mit Namen Monte Sante Marie anzugreifen, 81 Kilometer vor dem Ziel. So geschah es tatsächlich auch, niemand konnte trotz der Vorwarnung folgen, Pogacar war enteilt und gewann das Rennen überlegen mit fast drei Minuten Vorsprung vor dem Letten Tom Skujins. Unglaublich, Teil 1.
Pogacar bei der Strade Bianche
Die vier Monumente des Frühjahrs
Mailand-Sanremo, das schwere erste Monument des Radsports, ging etwas überraschend an den Sprinter Jasper Philipsen aus Belgien, der in der Lage war, allen Attacken der Allrounder um Pogacar in den vorgelagerten Hügeln standzuhalten. Pogacar schaffte es allerdings auf Rang drei. Die Flandern-Rundfahrt gewann der Niederländer Mathieu van der Poel, ein tempoharter Fahrer und Spezialist für Eintagesrennen, der später zudem souverän Paris-Roubaix gewann, die Königin der Klassiker. Lüttich-Bastogne-Lüttich wiederum sicherte sich Pogacar, erneut mit einer Attacke, die er weit vorm Ziel ansetzte. Diesmal griff er in der berüchtigten Côte de la Redoute an, rund 35 Kilometer vor dem Ziel - und gewann überlegen.
Giro d‘Italia und Tour de France
Zwei Rennen, ein Verlauf: Bei beiden großen dreiwöchigen Landesrundfahrten gewann der unwiderstehliche Pogacar jeweils sechs Etappen und die Gesamtwertung. In den Bergen war er unerreicht, beim Giro und der Tour gewann er außerdem ein Zeitfahren. Sein Vorsprung nach der finalen Etappe in Rom war mit fast zehn Minuten vor dem Kolumbianer Daniel Felipe Martinez außergewöhnlich. Unglaublich, Teil 2.
Tadej Pogacar attackiert Jonas Vingegaard am Col du Galibier
Bei der Tour gewann Pogacar bereits die vierte Etappe, die über den Galibier führte, zudem beide Pyrenäen-Teilstücke und schließlich zwei Tageswertungen in den Alpen hintereinander und das Abschlusszeitfahren von Monaco nach Nizza. Auch Vingegaard, diesmal gerade zurückgekehrt von einer schweren Sturzverletzung, konnte diesmal nicht mithalten. In Nizza hatte er einen Rückstand von 6:17 Minuten auf Pogacar. Zuletzt hatte Marco Pantani das Double aus Giro- und Tour-Sieg geschafft. Unglaublich, Teil 3.
Auch Mark Cavendish verewigte sich in den Tour-Geschichtsbüchern. In Saint-Vulbas gewann der Brite zum 35. Mal eine Tour-Etappe und überholte damit den legendären Eddy Merckx.
Olympische Spiele in Paris
Das Zeitfahren und das Straßenrennen der Männer gewann in Abwesenheit von Pogacar der Belgier Remco Evenepoel. Auch er gehört in die Kategorie der außergewöhnlichen Fahrer. Evenepoel ist der derzeit wohl beste Fahrer im Kampf gegen die Uhr, was ihn wie Pogacar dazu befähigt, lange Solos durchzuhalten. Im Straßenrennen von Paris gewann Evenepoel vor nahezu ekstatischer Kulisse auf dem Montmartre trotz eines Defekts kurz vor dem Ziel überlegen. Ikonisch wurde seine Jubelgeste kurz hinter der Ziellinie: hochgehobenes Rad vor der Kulisse des Eiffelturms. Angesichts der völlig euphorischen Zuschauer war dieser olympische Tag von Paris, der 3. August 2024, ein unvergesslicher.
Pogacar verzichtete offiziell wegen Erschöpfung auf den Start bei den Spielen. Inoffiziell jedoch, weil seine Verlobte Urska Zigart, slowenische Zeitfahr- und Straßenmeisterin, von ihrem Verband nicht für Paris nominiert worden war.
Bahnrad
Aus deutscher Sicht verliefen die Bahnradwettbewerbe in Paris nicht wie erhofft. Die Serien-Weltmeisterinnen und Goldfavoritinnen Lea-Sophie Friedrich, Pauline Grabosch und Emma Hinze beendeten den Teamsprint als Dritte. Friedrich gewann zudem Silber im Sprint-Einzelwettbewerb. Für Furore sorgte bei den Spielen von Paris der Niederländer Harrie Lavreysen, der auf der Bahn von Saint-Quentin-en-Yvelines gleich dreimal Gold gewann: im Teamsprint, im Einzelsprint und im Keirin. Bei den Frauen überraschte die Neuseeländerin Ellesse Andrews mit Siegen im Sprint und im Keirin und zudem mit Silber im Teamsprint hinter den Britinnen.
Tour de France der Frauen
Die seit 2022 wieder aufgelegte Frankreich-Rundfahrt der Frauen erlebte das spektakulärste Finale der Saison. Die niederländische Top-Favoritin Demi Vollering hatte infolge eines Sturzes auf der fünften Etappe, alleingelassen von ihrem Team SD-Worx, vor der finalen Herausforderung, einer Bergankunft in Alpe d’Huez, 1:15 Minuten Rückstand auf Katarzyna Niewiadoma aus Polen. Davon blieben im Ziel gerade mal vier Sekunden übrig. Vollering attackierte früh und hatte schnell den Rückstand auf Niewiadoma herausgefahren, doch die Polin kämpfte verzweifelt und schaffte es als Siegerin ins Ziel. Vollering, enttäuscht von den Zwistigkeiten bei SD-Worx, wechselte nach der Saison das Team. Sie fährt künftig für FDJ-Suez.
Rad-WM
Sieg beim Giro Ende Mai, bei der Tour im Juli und bei der WM im September: Pogacar schaffte dieses außergewöhnliche Triple, das zuvor nur dem Belgier Eddy Merckx (1974) und dem Iren Stephen Roche (1987) gelungen war. Pogacar schloss 100 Kilometer vor dem Ende die Lücke zu den verbliebenen Ausreißern und blieb danach bis zum Ziel vorn. Er selbst bezeichnete diese Aktion anschließend als "dumm", doch sie ging auf. Was für ein Move, was für ein Solo, was für ein Sieg. Unglaublich, Teil 4.
Pogacar feiert seinen Sieg bei der Rad-WM.
Vuelta
Auch die dritte dreiwöchige Rundfahrt des Jahres gewann ein Slowene. Primoz Roglic gelang sein vierter Erfolg bei der Vuelta. Für die neuformierte Mannschaft Red Bull-Bora-hansgrohe endete das Radsport-Jahr damit versöhnlich. Bei der Tour hatte das Team unter dem sturzbedingten Ausscheiden Roglics nach der zwölften Etappe zu leiden: kein Etappensieg, der Traum vom erhofften Tour-Triumph platzte. Bei der Vuelta jedoch glänzte Roglic mit drei Tageserfolgen und dem Triumph in der Gesamtwertung.
Bei dem Rennen überraschte der deutsche Newcomer Florian Lipowitz (24) als herausragender Adjutant von Roglic in den Bergen. Am Ende erreichte der Grand-Tour-Debütant von der Schwäbischen Alb mit Beharrlichkeit Rang sieben in der Gesamtwertung. Chapeau.
Unglaublich, Teil 5:
Tadej Pogacar gewann nach seinem WM-Titel auch die Lombardei-Rundfahrt, das fünfte Eintagesmonument des Radsport-Kalenders. Wieder nach einem Solo, erneut mit riesigem Vorsprung. Am Saisonende hatte er 24 Rennen gewonnen. Eine solche Serie hatte es seit den Zeiten des nimmersatten Eddy Merckx Ende der 1960er- bis Mitte der 1970er-Jahre nicht mehr gegeben.