35. Etappensieg für Mark Cavendish Historischer Erfolg im französischen Nirgendwo
Mark Cavendish hat es tatsächlich noch einmal geschafft. In Saint Vulbas macht sich der Brite zum alleinigen Rekordetappensieger der Tour de France. Die Konkurrenten zollen Cavendish Respekt, er selbst will weitere Siege.
Es muss schon etwas Außergewöhnliches passiert sein, bevor der Tourdirektor hinter dem Podium vor die Kameras der internationalen TV-Sender tritt und sich den Fragen der Journalisten stellt. Christian Prudhomme hat dort schon sehr wütend Dopingfälle kommentiert und mit ernster Miene zu Fragen der Sicherheit Stellung genommen.
Diesmal aber, nach der 5.Etappe, stand er dort mit einem Strahlen im Gesicht und setzte zu einer Eloge an, an diesem für die Tour de France historischen Tag: "Mark Cavendish wird als phänomenaler Champion im Radsport in Erinnerung bleiben", sagte Prudhomme mit dem ihm eigenen Pathos. "Ich bin sehr glücklich, dass ein Champion seines Kalibers ein 35. Mal gewinnt. Und ich glaube, jeder ist glücklich."
35. Etappensieg - Rekord
Diesen Eindruck konnte man durchaus gewinnen in Saint-Vulbas, nachdem Mark Cavendish an diesem unspektakulären Ort auf einer Landstraße im französischen Nirgendwo zwischen Bäumen und Wiesen als erster ins Ziel gerast war. Fast das gesamte Peloton war anschließend im Zielbereich stehen geblieben, um dem Tagessieger zu gratulieren.
Es war Cavendishs 35. Etappensieg bei der Tour de France - so viele hat noch kein anderer Radprofi gefeiert. Diesen Rekord hat der mittlerweile 39-Jährige von der Isle of Man nun ganz für sich. Denn er hat damit einen Etappensieg mehr eingefahren als der legendäre Eddy Merckx, mit dem er sich den Rekord bis zu diesem Tag teilen musste. Sicher, der Belgier hat auch noch fünf Mal die Tour de France gewonnen, aber das war für einen Sprinter wie Cavendish ja ohnehin nie möglich.
"Er ist der mit Sicherheit größte Sprinter, den es je gegeben hat", würdigte ihn sein ehemaliger Teamkollege und langjähriger Freund Geraint Thomas, der Toursieger von 2018. "Er ist eine außergewöhnliche Persönlichkeit. Er hat schon Etappen bei der Tour de France gewonnen, da war ich noch nicht mal Radprofi", sagte John Degenkolb, mittlerweile immerhin auch schon 35 Jahre alt.
Debüt als junger Heißsporn
Cavendish kam 2007 erstmals zur Tour, ein junger, etwas zu selbstbewusster Sprinter, der ordentlich Lehrgeld zahlen musste. Nach mehreren Stürzen gab er das Rennen auf der 8. Etappe auf. Doch im Jahr darauf gelangen ihm gleich vier Etappensiege. Es folgten seine besten Jahre. Zwischen 2009 und 2016 raste er weitere 26 Mal als Erster über den Zielstrich, gewann vier Mal den Sprint Royal auf den Champs-Élysées und sicherte sich zwei Mal das Grüne Trikot des Punktbesten. Lediglich 2014 ging Cavendish leer aus, weil er im Sprint um das Gelbe Trikot auf der 1. Etappe der Tour in Harrogate schwer stürzte und das Rennen aufgeben musste.
In all diesen Jahren war Cavendish mal der Rüpel im Sattel, mal der nette Radprofi mit Sinn für Familie. Nie unumstritten, aber immer auch bewundert für seine Leistungen. Doch nach 2016 stürzte Cavendishs Karriere dann in ein Loch. Zurückgeworfen von Krankheiten und Verletzungen schien seine Zeit vorbei zu sein. Aber dann legte er bei der Tour de France 2021 ein fulminantes Comeback hin mit vier Etappensiegen, die ihn auf eine Stufe brachten mit Eddy Merckx.
Das lange Warten auf Nummer 35
Seitdem begleitete ihn die Frage, ob ihm dieser eine Rekordsieg - die Nummer 35 - noch gelingen würde. Doch 2022 wurde er von seinem damaligen Team Quick Step-Alpha Vinyl nicht nominiert. Ein Affront, der ihn schmerzte. Cavendishs Karriere schien einfach zu Ende zu gehen, bis ihm die Equipe Astana-Qazakstan, mit dem wegen seiner Dopingvergangenheit als Radprofi schlecht beleumundeten Teamchef Alexander Winokurow, noch mal einen Vertrag gab.
Winokurow war es auch, der Cavendish überredete, noch ein Jahr dranzuhängen, nachdem der Brite bei der Tour 2023 in Bordeaux diesen 35. Sieg knapp verpasst hatte, und tags drauf nach einem Sturz mit Schlüsselbeinbruch das Rennen hatte verlassen müssen. Cavendish ließ sich darauf ein, und das Team richtete dafür die gesamte Saison auf diesen einen Tag aus. "Sie sind ein Glücksspiel eingegangen, damit wir bei dieser Tour gut sind", sagte Cavendish in Saint Vulbas. "Sie haben an mich geglaubt."
Cavendish bleibt eher nüchtern
Während die Kollegen in Saint Vulbas den Mann und seinen Rekord würdigten, wirkte dieser allerdings merkwürdig verhalten. Natürlich hatte Cavendish im Ziel die Arme in die Luft gerissen, wie bei allen seinen vielen Siegen zuvor. Er hatte anschließend auch enthusiastisch seine Teamkollegen und die Betreuer seiner Equipe umarmt und die vielen Glückwünsche aus dem Peloton entgegengenommen.
Doch schon kurze Zeit später wirkte Cavendish dann sehr nüchtern. "Entschuldigung, dass ich hier nicht rumtanze und die Wände hochgehe", sagte er nach der Siegerehrung. Er sprach leise und ruhig, hörte den eigenen Worten nach. Der 39-Jährige ist kein großer Rhetoriker, war er nie. Und auch diesmal rang er nach der richtigen Formulierung, machte lange Pausen zwischen den Sätzen, mit denen er versuchte, sich und das Geheimnis dieses Erfolges zu erklären, den ihm kaum noch jemand zugetraut hatte.
"In diesem Moment gibt es nur diesen einen Sieg"
Also ließ er den Arbeitstag, den überlegenen Sieg nochmal Revue passieren. Der Sprint war gar nicht so ideal verlaufen, weil sich sein Team in der chaotischen Schlussphase verloren hatte. Also musste er alleine durch, fand das Hinterrad des starken deutschen Sprinters Pascal Ackermann und zog schließlich unaufhaltsam los. "In diesem Moment gibt es keinen 35. Sieg, es gibt nur dieses Rennen. Überhaupt gibt es immer nur diesen einen Moment. Du musst sprinten, so hart wie du kannst bis zur Ziellinie."
So hat er es immer gehalten, es ging ihm immer nur um den nächsten Sprint, den nächsten Erfolg. Und so wird er es wohl auch weiter tun, in den kommenden zwei Wochen. "Ich habe ihm geraten, das Fahrrad abzustellen, wenn er diesen Sieg geschafft hat, und dann einfach abzutreten", sagte Geraint Thomas, wohl wissend, dass sein Kumpel sich nicht an diesen Rat halten würde, schon gar nicht bei der Tour de France.
"Ich liebe dieses Rennen, wenn ich es fahre, wenn ich es mir ansehe. Ich gebe hier immer 100 Prozent", sagte Cavendish. "Also werden wie weitermachen und versuchen, die Sprints zu gewinnen." Nicht auszuschließen, dass auf Nummer 35 auch noch Nummer 36 folgt.