Tadej Pogacar auf dem Cime de la Bonette
Tourreporter

Pogacar vor dem Toursieg Alleine in einer anderen Welt

Stand: 19.07.2024 21:20 Uhr

Tadej Pogacar gewinnt die 19. Etappe der Tour de France und baut seinen Vorsprung in der Gesamtwertung aus. Der Toursieg ist dem Slowenen wohl nicht mehr zu nehmen. Die Konkurrenten sehen ein, dass Pogacar in einer anderen Welt fährt.

Von Michael Ostermann, Isola 2000

Jonas Vingegaard vergrub sein Gesicht erst in den Armen seiner Frau Trine, dann hing er eine Weile über dem Lenker seines Fahrrades. Es wirkte, als würde er ein paar Tränen vergießen, aber das war hinter seiner verspiegelten Sonnenbrille nicht klar zu erkennen. Vielleicht war es auch nur die pure Erschöpfung nach dieser 19. Etappe der Tour de France, auf der das Peloton drei Mal auf über 2.000 Meter klettern musste.

Pogacar wirkt frisch, die anderen sind gezeichnet

Die Furchen im blassen Gesicht des Dänen schienen jedenfalls noch tiefer zu sein als sonst, nachdem er seinen zweiten Platz in der Gesamtwertung auf dem Weg nach Isola 2000 zwar verteidigt, aber die Tour wohl verloren hatte. Auch die Mienen der anderen Fahrer waren von den Strapazen des Tages gezeichnet.

Nur einer wirkte so frisch, als habe er gerade eine leichte Trainingseinheit absolviert, obwohl er gerade wieder die Konkurrenz in Grund und Boden gefahren, die Etappe gewonnen und seine Führung in der Gesamtwertung weiter ausgebaut hatte.

Tadej Pogacar wird, wenn ihm in den kommenden beiden Tagen kein Unglück widerfährt, die Tour de France zum dritten Mal in seiner Karriere gewinnen. Vor den letzten beiden Etappen beträgt sein Vorsprung im Gesamtklassement 5'03 Minuten auf Jonas Vingegaard. "Das ist ein ordentlicher Vorsprung jetzt", sagte Pogacar zufrieden, nachdem man ihm erneut das Gelbe Trikot übergestreift hatte, das er bereits seit dem Ende der 4. Etappe trägt

19. Etappe - die Stimmen

Sportschau Tour de France, 19.07.2024 14:58 Uhr

Pogacar sprengt Annahmen und Rekorde

Die Überlegenheit, mit der Pogacar diese Tour bestreitet, ist erdrückend. Genauso wie beim Giro d'Italia, den der Slowene im Mai mit fast zehn Minuten Vorsprung gewann. Nach Lage der Dinge wird Pogacar der erste Fahrer seit Marco Pantani sein, der die beiden wichtigsten Landes-Rundfahrten im selben Jahr gewinnt.

Panatanis Doppeltriumph von 1998 stammt aus den finstersten Hoch-Doping-Zeiten. Und eine zeitlang galt es als ziemlich sicher, dass das Giro-Tour-Double im modernen Radsport nicht mehr zu schaffen sei. Aber Pogacar sprengt solche Annahmen genauso wie alle sonstigen Rekorde.

Der 25 Jahre alte Radprofi ist auf dem Zenit seines Schaffens und schwebt dort weit über der Konkurrenz. "Er fährt in seiner eigenen Liga. Dahinter kommen Jonas und ich und dann der Rest", sagte der Belgier Remco Evenepoel, der mit 7'01 Minuten Rückstand auf Rang drei des Klassements geführt wird, mit deutlichem Vorsprung auf Platz vier: "Im Grunde sind es drei Rennen in einem."

Moritz Cassalette, Sportschau Tourfunk, 19.07.2024 18:34 Uhr

Vingegaard: "Jetzt ist der Kampf um den Sieg vorbei"

Das eine bestreitet Pogacar alleine - in seiner eigenen Welt. Jonas Vingegaard, der Toursieger der beiden vergangenen Jahre, der normalerweise auf einem gemeinsamen Planeten mit dem Rivalen um die Wette fährt, ist nach seinem schweren Sturz bei der Baskenland-Rundfahrt und der dadurch arg gestörten Vorbereitung nicht in der nötigen Verfassung, um Pogacar auf Augenhöhe zu begegnen.

Das hatte sich in den Pyrenäen schon angedeutet. Und die Hoffnung des Dänen und seines Teams, er werde in der dritten Woche doch noch seine Topform erreichen, erfüllte sich nicht. "Ich denke das ist normal mit nur anderthalb Monaten Vorbereitung. Ich habe von Anfang an gesagt, es wäre verrückt, wenn ich um den Sieg kämpfen könnte, aber das habe ich für zweieinhalb Wochen gemacht", sagte Vingegaard in Isola 2000: "Und jetzt ist der Kampf um den Sieg vorbei."

Bei Vingegaard und seinem Team Visma-Lease A Bike war diese Erkenntnis schon während der Etappe gereift, weshalb sie schon unterwegs einen Strategiewechsel vollzogen. Als Vineggaards Teamkollege Matteo Jorgenson 13,5 Kilometer vor dem Ziel aus der Ausreißergruppe attackierte und sich solo auf den Weg machte, wurde das für alle sichtbar.

Vingegaard kann den Plan nicht umsetzen

Der Plan für den Tag war natürlich ein anderer gewesen. Jorgenson und Wilco Kelderman hatten die Fluchtgruppe ursprünglich nicht besetzt, um um den Tagessieg zu kämpfen. Sie sollten als Relaisstationen dienen, damit Vingegaard bei einer erfolgreichen Attacke auf das Gelbe Trikot noch zwei Helfer zur Unterstützung gehabt hätte.

Dieser Angriff hätte schon am vorletzten Anstieg hinauf zum 2.802 Meter hohen Cime de la Bonnette erfolgen sollen. "Wenn ich den Plan ausgedruckt und auf der Playstation ausgeführt hätte, wäre es so gewesen", sagte der Sportliche Leiter des Teams, Grischa Niermann.

In der Realität auf der Straße hätte Vingegaard den Plan gegen das in der Favoritengruppe geschlossen voranfahrende UAE-Team von Tadej Pogacar in die Tat umsetzen müssen. "Aber ich hatte heute nicht die Beine. Darum musste ich mein Mindset ändern und anstatt zu attackieren hinterherfahren", sagte der Däne: "Und dann haben wir Matteo die Chance gegeben, auf den Etappensieg zu fahren."

Pogacar verweigert Jorgenson den Etappensieg

Also machte sich Jorgenson auf den Weg, während Vingegaard sich fortan darauf beschränkte, seinen zweiten Platz in der Gesamtwertung gegen Remco Evenepoel zu verteidigen. Als Pogacar attackierte, versuchte er gar nicht mehr, dem Mann in Gelb hinterherzufahren, sondern blieb stattdessen an Evenepoels Hinterrad.

Pogacar sammelte unterdessen einen Ausreißer nach dem anderen ein und fuhr 1,9 Kilometer vor dem Ziel auch an dem bemitleidenswerten Jorgenson vorbei, der schon im vergangen Jahr ganz knapp an einem Tour-Etappensieg vorbeigeschrammt war. Pogacar kannte keine Gnade.

19. Etappe - die letzten fünf Kilometer

Sportschau Tour de France, 19.07.2024 14:53 Uhr

Eine Ausnahme hätte er nur gemacht, wenn Simon Yates, der Zwillingsbruder seines Teamkollegen Adam - der ebenfalls zu den Ausreißern gehört hatte - an der Spitze gefahren wäre. "Dann hätte ich vielleicht zurückgehalten", sagte Pogacar. Aber dem Teamkollegen von Vingegaard gönnte er den Triumph nicht. "Ich wollte Matteo im Finale einholen, weil sie uns vom ersten Berg an unter Druck gesetzt haben, als Matteo und Keldermann in die Gruppe gegangen sind", sagte Pogacar.

Ein Satz, den auch Eddy Merckx, der (noch) größte Radsportler aller Zeiten, hätte sagen können. Pogacar hat dessen Spitznamen "der Kannibale" längst übernommen, weil auch er unersättlich ist, in seinem Drang nach Siegen. Nur am Samstag, auf der letzten Etappe in den Alpen vor dem abschließenden Zeitfahren in Nizza, da wird er sich ein bisschen zurückhalten: "Morgen kann ich den Tag genießen, da lassen wir eine Ausreißergruppe gehen." Ein paar Brosamen für die Nomalsterblichen.