Die deutsche U17-Nationalmannschaft jubelt nach dem Sieg im U17-WM-Halbfinale gegen Argentinien

Deutschlands U17 ist Weltmeister Toll für den Moment, kontraproduktiv für die Zukunft?

Stand: 02.12.2023 19:37 Uhr

Der Weltmeistertitel der deutschen U17-Nationalmannschaft ist ein Riesenerfolg, aber kein Versprechen für die Zukunft. Studien sehen andere Faktoren für Weltklasse im Erwachsenenalter.

Deutschlands U17-Fußballer haben den Traum von ersten Weltmeister-Titel wahr gemacht. Die Feierlichkeiten gehen nach dem Finalerfolg gegen Frankreich also weiter. Mittendrin stand vor wenigen Tagen noch ein Geburtstag an: Winners Osawe ist am Mittwoch 17 Jahre alt geworden, als letzter im Kader.

Der Angreifer von RB Leipzig gehört zu einer Minderheit im Team: Er ist einer von nur sechs Spielern, die in der zweiten Hälfte des Jahres 2006 geboren worden sind. Dagegen stehen 15 Spieler, die in der ersten Jahreshälfte Geburtstag haben - und damit älter sind. Sie machen 71 Prozent des Kaders aus.

Relative Age Effect - Relativer Alterseffekt

Diese Verteilung ist typisch für U-Nationalmannschaften, dort liegt sie laut dem DFB-Mitarbeiter Damir Dugandzic manchmal sogar bei 80 Prozent. Das Phänomen heißt "Relative Age Effect", also relativer Alterseffekt. Es ist das Resultat davon, dass ältere Kinder und Jugendliche eines Jahrgangs große Vorteile genießen. Ein paar Wochen oder Monate Vorsprung können den Unterschied machen, ob man in einen Kader berufen wird, Fördertraining und Wechselangebote erhält.

Die Folge: Kinder mit späterem Geburtstag und auch Spätentwickler fallen durchs Raster, obwohl sie vielleicht sogar mehr Potenzial haben. Im schlechtesten Fall hören sie frustriert auf mit ihrem Sport.

Jugendfußball ist stark an Ergebnissen orientiert

Der Effekt ist bekannt und durch mehrere Studien belegt, aber das Gegenwirken ist schwer. Die aktuellen DFB-Reformen im Kinderfußball zielen unter anderem darauf ab, eine frühe Selektion zu verhindern. Sie sollen allen Kindern, nicht nur den Besten, Spielzeit und Ballaktionen ermöglichen. Die Kritiker sind trotzdem zahlreich und laut, vor allem, wenn es um den Wegfall von Tabellen und notierten Ergebnissen geht. Ex-Nationalspieler Dietmar Hamann etwa beklagte eine Abkehr vom Leistungsprinzip.

Bisher ist der Jugendfußball in Deutschland stark an Ergebnissen und frühen Spitzenleistungen orientiert. Kinder wechseln schon in jungen Jahren in Nachwuchsleistungszentren, spielen dort um Meistertitel mit dem Verein und um Trophäen mit der Nationalmannschaft. Doch dieses Prinzip sei kontraproduktiv, sagt Arne Güllich. Denn "wer sehr früh anfängt, wer sehr früh schon relativ viel trainiert, hat ein höheres Risiko, schon im Jugendalter Überlastungsschäden zu haben", sagt er.

"Frühstarter sind nicht diejenigen mit der höchsten Erfolgsperspektive"

Der Sportwissenschaftler von der Technischen Universität Kaiserslautern hat mit seinem Team internationale Studien zu den Lebenswegen von Spitzenathletinnen und -athleten untersucht. Ein Ergebnis: "Die Frühstarter sind nicht diejenigen mit der langfristig höchsten Erfolgsperspektive. Die besten Jugendathleten sind nicht immer die besten Erwachsenenathleten. Eher ist es so, dass die Weltklasseathleten im Jugendalter ganz gut dabei waren, aber nicht spitze waren - die meisten jedenfalls."

Das betonte Güllich im Gespräch mit der Sportschau Mitte November und bezieht sich dabei explizit nicht ausschließlich auf den Fußball, sondern den Sport insgesamt. Die Förderung von Talenten bedürfe laut Güllich vor allem Geduld und Reifungszeit. "Das können wir auch nicht mit 12, 14 oder 16 Jahren schon erkennen oder forcieren."

Weniger Ergebnis, mehr Fußball?

Ein weiterer Befund: Weltklasseathleten haben später mit dem Training in ihrer Hauptsportart begonnen, sind erst später in Förderprogramme gelangt und haben erst später Titel gewonnen. "Da sprechen wir von zwei bis drei Jahren Verzögerung", sagte Güllich. Wichtig sei eine vielseitige Ausbildung. "Die Weltklasseathleten haben im Mittel 1.000 Stunden weniger im Laufe ihrer Karriere in ihrer Hauptsportart trainiert und 1.000 Stunden mehr in anderen Sportarten."

Weniger auf Ergebnis ausbilden, mehr auf Fußball - das ist eine weit verbreitete Forderung. Man muss allerdings erst einmal Trainerinnen und Trainer finden, die den Mut haben, so zu trainieren und aufzustellen, auch gegen den Erwartungsdruck von Eltern und Vereinsvertretern. Der DFB will nun zumindest den Verantwortlichen der Nachwuchsleistungszentren ein wenig Druck nehmen. In den A- und B-Jugend-Bundesligen sollen die Profiklubs nicht mehr absteigen können - auch dagegen gibt es Kritik.

Musiala schwärmt von Ausbildung in England

Es gibt weitere Ansätze, zum Beispiel in den Jugendakademien von Benfica und Sporting Lissabon. Beide portugiesische Traditionsklubs lassen schon seit vielen Jahren bis zur U14 den Ligabetrieb aus, konzentrieren sich auf Einladungsturniere und lassen Spieler mitunter in anderen Jahrgängen spielen.

Und Jamal Musiala schwärmte von seinen Jugendjahren in England: "In Deutschland gibt es schon für unter Zehnjährige ein Ligensystem, wohingegen das in England bis zur U18 nicht üblich ist. Da hat man viel weniger Druck und mehr Zeit, sich zu entwickeln, man kann viel freier spielen."

U17-WM künftig alle zwei Jahre

Währenddessen stellt der Weltverband FIFA sein Produkt U17-WM ins Rampenlicht, lässt sie ab 2025 jährlich statt im Zwei-Jahres-Rhythmus austragen. Sie spiele eine entscheidende Rolle für die Identifizierung junger Spieler. "Für das Wachstum und die Entwicklung von Fußballern ist das Turnier unerlässlich", sagte der ehemalige paraguaische Nationalspieler Julio Gonzalez, Mitglied der Technischen Studiengruppe der FIFA.

Tatsächlich haben auch spätere Weltstars der U17-WM ihren Stempel aufgedrückt. In der Liste der besten Spieler der jeweiligen Turniere tauchen unter anderem Cesc Fàbregas (2003), Toni Kroos (2007) und Phil Foden (2017) auf - aber auch Namen von Spielern, die den Durchbruch in den Profibereich verpasst haben.

Was wurde aus Deutschlands U17 von 2017?

Ein Blick auf die deutsche U17-Nationalmannschaft von 2017, damals war Deutschland zuletzt bei der WM dabei, untermauert ebenfalls Güllichs These. Nur wenige Spieler der damaligen Startelf aus dem Viertelfinale gegen Brasilien (0:1) haben sich als Profi einen Namen gemacht. Die Prominentesten sind Yann Bisseck (Inter Mailand), Josha Vagnoman (VfB Stuttgart) und Jessic Ngankam (Eintracht Frankfurt).

Was die drei eint: Sie haben alle in der zweiten Jahreshälfte Geburtstag. Sie scheinen also 2017 vor allem wegen ihres Talents dabei gewesen zu sein - und nicht etwa wegen eines natürlichen Vorsprungs von Frühgeborenen und des Relative Age Effects.