Nach René Wellers Tod Kopftreffer im Boxen - Ziel und Risiko zugleich
Der verstorbene René Weller litt an Demenz, womöglich ausgelöst durch wiederholte schwere Kopftreffer. Längst nicht nur Boxer sind vom lebensgefährlichen Syndrom betroffen, Studien schrecken auf.
"Demenz, möglicherweise im Rahmen eines traumatischen Enzephalopathie-Syndroms" - so lautete laut dem "Spiegel" die Diagnose, die René Weller von der Uniklinik Heidelberg erhalten hatte. Der einst schillernde, kraftstrotzende Boxer, mitunter "schöner René" genannt, war in der letzten Jahren seines unsteten Lebens ein Pflegefall, seine Frau Maria umsorgte ihn bis zum Schluss. Am Dienstag (22.08.2023) starb Weller, er war 69 Jahre alt.
Seine schwere Demenz war womöglich berufsbedingt. Die chronische traumatische Enzephalopathie, kurz CTE, entsteht durch wiederkehrende schwere Erschütterungen des Gehirns. Sie kann Depressionen auslösen, Parkinson, Persönlichkeitsveränderungen oder eben Demenz.
"Punch Drunk" und "Boxersyndrom"
Schon seit 1928 ist das Syndrom bekannt, anfangs "Punch Drunk" genannt, später auch "Boxersyndrom". 1973 wiesen Mediziner bei 15 ehemaligen Boxern posthum die typischen Veränderungen im Gehirn nach, die auf CTE hinweisen. Wiederholte harte Kopftreffer sind beim Kampfsport gewollt, ja sogar Ziel des Sports, die Protagonisten sind entsprechend gefährdet.
Maria Weller hatte bereits vor einem Jahr in den "Badischen Neuesten Nachrichten" den Bund Deutscher Berufsboxer (BDB) kritisiert. "Ich finde es ganz traurig, dass sich da keiner um ihn kümmert", sagte sie. Obwohl ihr Mann bei jedem seiner Kämpfe Deutschland vertreten habe, tue keiner etwas, auch nicht für die Familien. "Es müsste einen Topf geben für Boxer, die durchs Boxen krank werden."
Box-Verband veröffentlicht Text
Der angegriffene BDB reagierte laut Badischen Neuesten Nachrichten nicht auf eine Anfrage der Zeitung, veröffentlichte aber einen Text auf dem Verbandsorgan Boxen1. Darin schrieb Sven Haladyn, einer der BDB-Ärzte, es könne nicht bewiesen werden, dass der Boxsport und die erlittenen Kopftreffer für Wellers Demenz mitverantwortlich seien. "Diese Diagnose lässt sich bis dato nur durch eine hirnorganische Untersuchung im Rahmen einer Autopsie stellen und anhand typischer Symptome und der passenden Vorgeschichte als Profiboxer vermuten."
CTE im American Football
Dieses Grundproblem, dass eine exakte Diagnose zu Lebzeiten nicht möglich ist, erschwert die Forschung. Erst nach und nach kam ans Licht, dass längst nicht nur Boxer betroffen sind. Vor allem im American Football sorgten ab 2005 immer neue Fälle für Aufsehen, die Profiliga NFL redete dennoch lange den Zusammenhang zwischen ihrem Sport und CTE klein.
Kurz vor dem Super Bowl 2023 veröffentlichte die Boston University die Ergebnisse einer Studie, in der sie 376 Gehirne von verstorbenen ehemaligen NFL-Spielern untersucht hatte. In 345 Fällen (92 Prozent) folgte die Diagnose CTE.
2013 erzielten tausende ehemalige NFL-Profis nach einer Sammelklage eine Einigung mit der Liga, erhielten eine Zahlung von 700 Millionen Euro. Diesem Vorbild folgen in England nun 360 ehemalige Rugbyspieler und 15 Fußballer, sie machen ihren Sport und deren Verbände für ihre Erkrankungen verantwortlich.
CTE im englischen Fußball
Im englischen Fußball ist das Thema besonders präsent, weil dort viele Helden der Weltmeisterelf von 1966 an Demenz erkrankten. Bei Torjäger Jeff Astle, Klublegende von West Bromwich Albion, wurde nach seinem Tod im Alter von 59 Jahren CTE diagnostiziert. Der englische Fußballverband FA ließ anschließend auch die Folgen des Kopfballspiels erforschen und verbot das Kopfballtraining für Kinder bis zwölf Jahre.
Die Universität Glasgow wertete die Todesursachen von 7.500 früheren schottischen Fußballprofis aus. Der Befund: Für Fußballprofis ist das Risiko, an Alzheimer, Parkinson oder anderen Demenzerkrankungen zu sterben, dreieinhalb Mal höher ist als im Durchschnitt.
CTE bei Sportlerinnen
Fälle gibt es auch im Baseball und Eishockey, eben überall, wo das Gehirn wiederholt und intensiv erschüttert wird. Allerdings gibt es bisher erst eine CTE-Diagnose bei einer Frau: Die Australian-Football-Spielerin Heather Anderson starb November 2022, sie soll sich das Leben genommen haben. Dass erst jetzt bei einer Frau CTE nachgewiesen worden ist, unterstreicht den Befund, dass Frauen in Forschungsprojekten der Sportwissenschaft stark unterrepräsentiert sind.
Athletinnen und Athleten gehen immer ein Risiko ein, wenn sie Leistungssport betreiben. Meistens kennen sie die Gefahren genau. René Weller dagegen dürfte das Thema CTE bei seiner aktiven Karriere kaum auf dem Zettel gehabt haben. Ob es ihm vom Boxsport abgehalten hätte, ist eine andere Frage, die er nun nicht mehr beantworten kann.