Lovro Kos in Lake Placid

Skispringen Naht, Schritt, Dicke - deshalb geht es um Millimeter

Stand: 10.03.2025 11:09 Uhr

Warum ist es wichtig, dass die Skisprung-Anzüge vermessen werden? Warum ist eine versteifte Naht verboten? Und wie könnte die Messung verbessert werden? Wir erklären ein paar wichtige Hintergründe zum Skisprung-Skandal, der die WM in Trondheim überschattet hat.

Immer wieder werden Skispringer oder Skispringerinnen wegen nicht regelkonformer Anzüge in Wettkämpfen disqualifiziert. Ein echter Skandal wurde daraus beim olympischen Mixed-Wettkampf 2022 – fünf Athletinnen bestanden den Anzugtest nicht, was zu teilweise verbitterten Diskussionen um die Qualität der Anzugstest führte. Am vergangenen Wochenende erschütterte erneut ein Skandal um Anzüge die Skisprung-Welt. Ein Skandal, von dem Sportschau-Experte Sven Hannawald sagt: "In meinem schlimmsten Albtraum hätte ich nicht gedacht, dass es soweit kommt."

"Wir haben betrogen"

Aus dem norwegischen Teamhotel tauchte ein Video auf, in dem an Anzügen genäht wurde. Norwegens Cheftrainer Magnus Brevig war anwesend, als zusätzliche Nähte in Anzüge eingefügt wurden. Das ist verboten. Als die Vorwürfe nicht mehr zu leugnen waren, gestand Norwegens Sportdirektor Jan Erik Aalbu am Sonntag (09.03.2025), dass zwei Anzüge wissentlich manipuliert wurden: "Wir haben betrogen", sagte Aalbu.

"Wir haben betrogen"

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Stabilität und Weite - Deshalb ist die Zusatznaht verboten

Bei den Anzügen von Johan André Forfang und Marius Lindvik sollen demnach Nähte vom Knie bis in den Schritt zusätzlich verstärkt worden sein. Was bringt diese Manipulation? Österreichs Cheftrainer Andreas Widhölzl erklärte im ORF: "Die Naht bewirkt, dass der Anzug steifer wird. Das ist clever, aber nicht im Reglement drin." Die verbotene verstärkte, versteifte oder zusätzliche Naht, die in die Anzüge eingenäht wurde, bewirkt, dass die Springer im Flug mehr Stabilität haben. Mehr Stabilität bedeutet, weniger Bewegung des Skispringers, weniger Bewegung bedeutet ruhigeres Fliegen. Ruhigeres Fliegen kann zu einer größeren Weite führen, weil der Springer weniger bremsende Ausgleichsbewegungen machen muss.

Eine Veränderung, die für Polens Cheftrainer Thomas Thurnbichler eine Wirkung "wie Doping" habe.

Schrittlänge, Anzugdichte, Spielraum

Die verstärkte Naht ist nicht die einzige Möglichkeit, sich durch einen veränderten Anzug Vorteile zu verschaffen. Der Weltverband FIS versucht seit Jahren durch Änderungen des Reglements eine Chancen-Gleichheit unter den Skispringern herzustellen. Von Schrittlänge über Anzugdichte bis zu angebrachten elektronischen Chips soll sichergestellt werden, dass die Athleten wegen ihres skispringerischen Könnens und nicht wegen ihrer Anzüge gewinnen.

So muss der Anzug aus einem luftdurchlässigen Stoffe bestehen, die Anzüge dürfen nur minimal vier Millimeter und maximal sechs Millimeter dick sein. Außerdem darf der Anzug nicht weiter als vier Zentimeter Spiel bis zum Körper haben, damit sich der Anzug nicht wie ein Ballon aufbläht. Der Anzug muss aber mindestens zwei Zentimeter Spiel haben, darf also auch nicht zu eng anliegen. Im Schritt darf der Anzug maximal drei Zentimeter abstehen.

Chips zur Überprüfung

Um all das zu gewährleisten, werden die Anzüge vor dem Sprung von einem Anzug-Test-Team der FIS geprüft. Damit die Springer die richtige Passform nicht verändern, dürfen auf der Schanze die Anzugbeine nicht mehr Richtung Knie gezogen werden, was früher eine beliebte Technik war, um die Fläche im Schritt zu erhöhen. Mit sieben elektronischen Chips (bei Frauen fünf) wird die Passform fixiert, die Springer vor und nach dem Sprung mit einem Scanner getestet.

So funktioniert die Anzugsvermessung im Skispringen

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Ein Anzugwechsel zwischen erstem und zweitem Sprung ist nicht erlaubt. Über die gesamte Saison dürfen die Springer nur acht Sprunganzüge haben, für die WM waren zwei zusätzliche Anzüge erlaubt.

Hannawald: "Kontrolle an Maschine übergeben"

Die Messung wurde lange Zeit komplett händisch und nach Augenmaß der Kontrolleure vorgenommen. Mit Einführung der Chips wird dieser Ablauf nun teilweise elektronisch erledigt. Sportschau-Experte Sven Hannawald fordert, dass der Test noch weiter technisch abgewickelt wird: "Vielleicht muss die Überwachung der Anzüge auf eine Maschine übergeben werden. So, wie es den Scanner gibt, gibt es irgendwann auch die Möglichkeit, das von einem Computerprogramm kontrollieren zu lassen", so Hannawald.

Der Computer würde schließlich kein Auge zudrücken wie es möglicherweise manch Kontrolleur tut: "Dem Computer ist ein halber Millimeter egal, dann gibt es rot. Und dann kommen die Springer mit drei Millimeter Luft", sagte Hannawald in der Sportschau.

"Jetzt gewinnen Springer ..."

Hannawald hat zudem den Verdacht, dass nicht nur die Norweger manipulieren: "Es werden jetzt Techniken gesprungen, die du vor zwei Monaten nicht springen konntest. Da wärst du bei jeder Schanze ab 60 Metern gefahren", vermutet der 50-Jährige, dass bei der WM in Trondheim nur die Spitze des Eisbergs aufgedeckt wurde. "Jetzt gewinnen Springer, die am Anfang der Saison teilweise zu tun hatten, in den zweiten Durchgang zu kommen."

Am Mittwoch (12.03.2025) beginnt die Raw-Air-Tour ebenfalls in Norwegen. Das Skispringen erschüttert aktuell den schwerste Skandal seit Jahren. Und eine Fortsetzung ist noch in dieser Woche zu befürchten.