Emotionaler Bö-Rücktritt Wenn der Biathlon-König weinend den Thron verlässt
Er hat alles gewonnen, was der Biathlonsport bietet, auch und immer wieder auf der höchsten Bühne des Sports, bei Olympia. Johannes Thingnes Bö hängt das Gewehr an den Nagel. Der 18. Januar in Ruhpolding geht in die Biathlon-Geschichte ein – emotional, in nur 30 Minuten.
Nervöse Blicke schweifen umher, ein Gefühl der Schwere liegt im Medienzentrum an diesem Samstagvormittag. Die aufgebauten Fernseh-Kameras zeigen auf einen leeren Stuhl ganz am Ende. Die norwegische Nationalmannschaft hat eine ungeplante Pressekonferenz anberaumt.
In einer Ecke stehen die norwegischen Cheftrainer Siegfried Mazet, Egil Kristiansen und Patrick Oberegger im Kreise ihrer Kollegen, doch einer fehlt, heißt es offiziell. Das Athleten-Shuttle verspätet sich. Es ist ein Tag, an dem sich eigentlich alles um die Frauen dreht, drehen soll. Nur wenige Stunden später gewinnen die Deutschen mit Schlussläuferin Franziska Preuß beim Heim-Weltcup in Ruhpolding die Staffel. Doch dieser Tag verändert die Biathlon-Welt – vor allem die männliche.
Das Karriere-Ende kommt überraschend
Um 12:09 betritt Johannes Thingnes Bö das Pressezentrum, die Nachricht ist schon durchgesickert. Um Punkt 12 hat er es selbst auf seinem Instagram Kanal gepostet. Ein Foto, auf dem er lacht, mit seinen beiden Kindern auf der Brust – der Biathlon Dominator macht Schluss – aus – vorbei, ein Jahr früher als geplant.
Der Norweger läuft an den Kameras vorbei, er lächelt und winkt, doch er wirkt angespannt, so voll war der Presseraum während der Weltcup-Woche von Ruhpolding kein einziges Mal. Bö setzt sich auf den einsamen Stuhl, er zückt sein Handy.
Kaum ein Journalist bewegt sich, es herrscht Totenstille, ein Szenario, das sich beinahe so anfühlt wie eine Beerdigung. Der 31-Jährige räuspert sich, er erklärt, dass er sein Statement auf norwegisch geben wird und dann stockt Bö. Bevor er den ersten Satz vorlesen kann, fängt er an zu weinen.
Eine Pressekonferenz unter Tränen
Etwas abseits steht die Olympiasiegerin Marte Olsbu Roeiseland, mittlerweile Expertin beim norwegischen Fernsehen NRK, auch ihre Augen glänzen. Und so geht es vielen der Anwesenden. "Das ist so schwer", sagt Bö mit zittriger Stimme, er bricht wieder ab. Tränen fließen, er atmet tief: "Wir nähern uns schnell dem Ende eines Traumes, ein Traum, der entstand als mein Bruder Tarjei 2006 Weltmeister wurde."
Der komplette Raum hängt an seinen Lippen, wer keine Kamera bedient, hat längst das Handy nach oben gehalten. "Ich war 13 und habe davon geträumt, das gleiche zu erreichen wie Tarjei. 2012 waren wir plötzlich zusammen in der Nationalmannschaft. Was ist das für eine Reise seitdem. Danke, dass du immer mein Vorbild warst. Ich bin unfassbar stolz, dass du ein Teil meines Lebens bist."
Kein Start bei den Olympischen Spielen 2026
Der Plan war noch ein weiteres Jahr zu bestreiten, bei den Olympischen Spielen in Antholz 2026 wieder um Medaillen zu kämpfen. "Ich liebe es, Rennen zu laufen, aber ich fühle, dass die Zeit gekommen ist, meine Familie an die erste Stelle zu setzen."
Bö beantwortet jede Frage, erst auf norwegisch, dann auf englisch, es wird keine weiteren Interviews an diesem Tag gebe, nur die eine PK. "Es ist brutal anstrengend für dich und deine Familie, wenn du die Nummer 1 bist, das kostet viel Energie. Ich habe das schon nach Olympia in Peking gespürt. Wenn man das große Ganze betrachtet, würde ein Start 2026 vielleicht eine weitere olympische Goldmedaille bringen. Ich weiß, dass ich das erreichen kann, mein Körper ist für mich wie ein Geschenk."
"Mein Kopf ist bereits weitergezogen"
"Ich muss einfach nur trainieren, um die Nummer 1 zu sein, aber mental reicht die Kraft nicht mehr, für ein weiteres langes Jahr. Ich bin bereit für das nächste Kapitel im Leben, mein Kopf ist schon weitergezogen. In zwanzig Jahren, wenn meine Kinder ausziehen, werde ich diese Entscheidung nicht bereut haben."
Nach knapp einer halben Stunde fragt der Norweger mit leicht flehendem Unterton: "War es das?" Er wirkt erleichtert, aber auch so, als wolle er hier raus. Das war es, keine Frage mehr. "Danke und bis Morgen, ich muss mich auf mein Rennen vorbereiten." Bö lächelt, es ist 12:37, er steht auf, die Menge applaudiert und bildet eine Schneise. Er geht die Treppen hinunter und läuft über den Medienparkplatz, die Kapuze über den Kopf gezogen und verschwindet im Athleten-Areal.
Abschiedsfeier auf dem Holmenkollen
Mit Johannes Thinges Bö verabschiedet sich nicht nur ein fünfmaliger Olympiasieger und zwanzigmaliger Weltmeister. Fünf Mal hat er den Gesamt-Weltcup gewonnen und den Biathlonzirkus geprägt - zeit- und teilweise auch bestimmt. Vor allem aber tritt eine herausragende Persönlichkeit ab, ein inspirierender Sportler für den Nachwuchs.
Die Biathlon-Welt verliert einen ihrer schillerndsten Protagonisten. Der Rücktritt für die Familie macht ihn im Ansehen vielleicht noch größer als ein weiterer Olympiasieg. "Ich freue mich nun auf den letzten Part dieser wundervollen Karriere, die ihr Ende am Holmenkollen findet."
Am 23. März wird Johannes Thingnes Bö in Oslo das letzte Mal ein Weltcup-Rennen bestreiten.