Skurrile Szene im Biathlon-Einzel Johannes Thingnes Bö - Ein Gelbes Trikot gibt nicht auf
Es war die skurrilste Szene des Einzelrennens der Männer beim Biathlon-Weltcup in Ruhpolding. Johannes Thingnes Bö und Emilien Jacquelin, die vielleicht besten Biathleten dieser Saison, zwischen Smalltalk, Aufgeben und der Vorbildfunktion der Topathleten - zusammengefasst in 20 Kilometern.
20,6 Sekunden Schnellfeuereinlage, ein kurzes Winken und eine Verbeugung in Richtung Tribüne - Rennabbruch. Das hätte es gewesen sein können für Johannes Thingnes Bö, vielleicht sogar sollen, wäre ihm da nicht ein Franzose in die Quere gekommen.
Johannes Thingnes Bö, der Mann im Gelben Trikot, der Biathlon-Dominator der vergangenen Jahre, schoss fünf Fehler in den ersten drei Serien im Einzelrennen von Ruhpolding, lag abgeschlagen auf Platz 84, ein ungewohntes Bild. "Nach dem dritten Schießen wusste ich, dass ich weit weg von den Weltcuppunkten bin. Ich bin eine lockere Runde gelaufen, um nochmal ein extra schnelles Schießen zum Schluss zu üben. Danach wollte ich aussteigen und keine Energie verschwenden", sagte er im Sportschau-Interview.
Infekt über den Jahreswechsel
Über den Jahreswechsel war der große Norweger krank geworden und hatte nach dem Weltcup in Oberhof Anfang Januar sogar überlegt, die bayerische Weltcupstation auszulassen. "Die 20 Kilometer am Mittwoch in Ruhpolding kamen zu früh für meinen Körper, das hat richtig wehgetan. Jetzt muss ich geduldig sein und hoffen, dass es Tag für Tag besser wird." Er startete trotzdem.
Zurück ins Rennen und zum letzten Schießen dieses Einzels. Bö fegte mit dem Gewehr im Anschlag über die fünf schwarzen Scheiben, die so schnell ihre Farbe in weiß wechselten, dass sich der Betrachter Mühe geben musste zu folgen. Fünf Schuss, fünf Treffer, der Olympiasieger ließ aufblitzen, wozu er imstande ist.
Doch dann winkte er ins Publikum und ließ die Stöcke schleifen, rutschte gefühlt in Zeitlupe auf den Skiern aus dem Schießstand, wirkte lustlos. Das nächste Bild, das zwangsläufig in vielen Fan-Köpfen entstehen musste, war, wie Johannes Thingnes Bö die Skier abschnallen und das Rennen aufgeben würde.
Emilien Jacquelin als Motivator
Genau in diesem Moment kam Emilien Jacquelin, einer der größten Kontrahenten des Norwegers, angerauscht und redete im Vorbeifahren, wild gestikulierend, auf ihn ein: “Ich war total überrascht, weil ich so etwas bei Johannes noch nie gesehen habe. Dann habe ich ihm gesagt, dass er weiterlaufen soll”, beschrieb der Franzose die Situation am Tag nach dem Wettkampf.
Ausgerechnet Jacquelin, der bei den Biathlon-Weltmeisterschaften 2021 auf der slowenischen Pokljuka nach fünf Fehlern im Massenstart den Schießstand als Letzter verließ und von den Trainern auf der Strecke motiviert werden musste, weiterzulaufen. Der Franzose stoppte mehrmals unterwegs, unterhielt sich mit den Betreuern, um dann am Ende weinend ins Ziel zu laufen.
Wenn ein verkorkstes WM-Rennen das Gewissen verändert
Ein Rennen, das den 29-Jährigen geformt und geprägt hat. "Auf der Pokljuka war ich so enttäuscht. Bei einer WM geht es nur um Medaillen und die waren weit weg. Ich habe danach viel darüber nachgedacht und mich weiterentwickelt. Mittlerweile sehe ich die Dinge etwas anders. Ich versuche jetzt immer mein Bestes zu geben, in jedem Rennen. Seit zwei Jahren gibt es kein Rennen mehr, in dem ich nicht in jeder Sekunde alles reingehauen habe. Darauf bin ich stolz."
Auch Bö lief weiter. "Emilien hat gefragt, ob ich ihn nicht eine Runde begleiten will (lacht) und dass es nicht erlaubt sei, das Rennen aufzugeben, wenn du im Gelben Trikot läufst."
Johannes Thingnes Bö als Botschafter für den Nachwuchs
Der Gesamtweltcup-Führende beendete das Einzelrennen von Ruhpolding auf Platz 85, dem schlechtesten Ergebnis seiner gesamten Karriere, und dennoch macht ihn dieses Resultat vielleicht größer als ein weiterer Sieg in seiner schier unendlichen Medaillensammlung.
"Als Vorbild machst du weiter. Ich bin froh, dass Emilien da war und mir geholfen hat, die richtige Entscheidung zu treffen. Es ist ein gutes Beispiel für junge Athleten, weil du immer mal einen schlechten Tag haben kannst, aber du musst dich da durchbeißen und nach vorn schauen." Das Biathlon-Handbuch der kuriosen Geschichten ist somit um ein weiteres Kapitel reicher.