Kommentar nach der Pleite gegen Münster Kommentar nach Hertha-Pleite gegen Münster: Die Krise ist hausgemacht
Nach der peinlichen Niederlage gegen Preußen Münster steckt Hertha BSC endgültig in der Krise. Eine Krise, die nicht nur an Trainer Cristian Fiél festzumachen ist, sondern den gesamten Verein auf die Probe stellt. Ein Kommentar von Marc Schwitzky
"Cristian Fiel war unser absoluter Wunschkandidat, der unsere Erwartungen nicht nur erfüllt, sondern übertroffen hat", sagte Geschäftsführer Thomas Herrich auf Mitgliederversammlung von Hertha BSC am 17. November. Der Hauptstadtverein hatte davor empfindliche Niederlagen gegen Köln und Darmstadt kassiert, stand mit 17 Punkten nach zwölf Spielen nur auf Rang elf der 2. Bundesliga. Schon damals redete der Vereinsverantwortliche vermutlich an der Realität vieler vom Saisonverlauf eher ernüchterter Hertha-Fans geradewegs vorbei.
Nur einen Monat und vier Spiele später verkommt die Lobeshymne Herrichs auf Fiél schon beinahe zur Farce. Hertha hat in jener Zeit nur vier weitere Zähler geholt, ist in Köln aus dem DFB-Pokal ausgeschieden und hat am vergangenen Freitagabend eine peinliche Niederlage gegen Aufsteiger Preußen Münster kassiert. Der Abstand auf die Aufstiegsränge könnte nach dem Spieltag acht Punkte betragen. Bereits jetzt ist rechnerisch klar, dass Hertha eine schwächere Hinrunde gespielt haben wird als im Vergleich zur Vorsaison unter Fiél-Vorgänger Pal Dardai.
Der Anspruch an die Saison war klar
Eine härtere Punchline, wie es im Rap heißt, kann es kaum geben. Waren fehlender Erfolg und Spielidee doch die klare Begründung dafür, dass die Vereinsverantwortlichen nicht mehr mit Dardai weitermachen wollten. Cristian Fiél wurde geholt, Hertha zahlte sogar eine Ablösesumme im sechsstelligen Bereich an Ex-Klub Nürnberg. Von Beginn an hatten einige Hertha-Fans große Zweifel, ob Fiél sie ins gelobte Land führen kann. Zwar wird der 44-Jährige überall, wo er gearbeitet hat, menschlich überaus geschätzt und der Fußball, den er spielen lassen will, klingt wunderbar - doch allein die Ergebnisse fehlen bislang. Ein leidenschaftlicher Überzeugungstäter, der von einer fußballerischen Utopie träumt und erzählt, doch selbst noch nie dort angelangt ist.
Die Utopie bröckelt früh
Jene Utopie bröckelt auch bei Hertha früh, von Saisonbeginn an hakt es im Spiel der "alten Dame", das selten über gelobte Ansätze hinaus geht. Heute muss festgehalten werden: Es ist erschreckend wenig Entwicklung erkennbar. Die Probleme des 1. Spieltags sind auch die des 16. Spieltags: Ballbesitzfußball, der zwar dominieren soll, aber viel eher lahm und zahnlos daherkommt; keine Konstanz über 90 Minuten; eine wackelige Abwehr, die vor allem durch Standards und individuelle Fehler immer wieder in sich zusammenfällt.
Viel eher als eine positive Entwicklung ist sogar ein Aufweichen der fiel’schen Fußballidee erkennbar. Nicht aus einem gesunden Pragmatismus heraus, sondern eher, weil den Spielern scheinbar eben nicht die nötigen weiteren Werkzeuge an den Fuß gegeben wurden. Mit den ausbleibenden Ergebnissen wirkte die Mannschaft immer weiter verunsichert, das auf Dominanz und Mut ausgelegte Spiel verkam immer mehr zu einem unsauberen, unkreativen Gestolpere. Aus der zunächst einen Problematik, den guten Spielaufbau in konkrete Chancen umzuwandeln, sind mittlerweile unzählige Baustellen geworden. Fiél wirkt in diesen Tagen besorgniserregend ratlos und verloren.
Es ist nicht nur Fiéls Krise
Die 1:2-Niederlage und der erneut blutleere Auftritt gegen Preußen Münster bezeichnet Mannschaftskapitän Toni Leistner als den "tiefsten Tiefpunkt der Hinrunde". Vielmehr ist es der tiefste Tiefpunkt seit Herthas Bundesliga-Abstieg von vor eineinhalb Jahren. Die kritischen Stimmen zu Fiél häufen sich, noch nie war die Trainerdiskussion so hitzig wie jetzt.
Doch Herthas Krise ist nicht nur Fiéls Krise. Sie hat eine längere Geschichte und ist auf mehreren Schultern verteilt. Denn unabhängig vom Trainer gelingt es Hertha seit Jahren nicht, auch nur phasenweise an die Grenze des eigenen Potenzials zu stoßen. Fiél arbeitet in einem Trainerteam, das ebenfalls noch keine Erfolge nachzuweisen hat. Co-Trainer Jaime Monroy hat eine beeindruckende Vita, doch längerfristig wurde noch kein Erfolg mit seinem Namen verknüpft. Assistenztrainer Patrick Ebert hat nahezu keinerlei Erfahrung als Übungsleiter und ist aus Mangel an Alternativen urplötzlich in den Trainerstab aufgerückt und für die so wichtigen Standardsituation zuständig - Hertha gehört unter ihm zu den schlechtesten Mannschaften bei ruhenden Bällen, offensiv wie defensiv. Die Fans in Köln und Stuttgart waren froh, als Torwarttrainer Andreas Menger ihre Vereine verließ, bei Hertha wurde sein Vertrag im vergangenen Sommer trotz ausbleibender Entwicklungen gleich mehrerer Torhüter verlängert. Herthas Keeper Tjark Ernst zeigt seit eineinhalb Jahren unter Menger keinerlei Verbesserungen, seine Formkurve zeigt sogar noch unten.
Der Blick muss nach oben gehen
Auch in anderen sportlichen Abteilungen des Vereins herrscht entweder eine personelle Stagnation oder sogar ein wirtschaftlich bedingter Abbau von Ressourcen. Ob Mannschaft, Trainerteam, Scouting, Videoanalyse oder Athletikbereich - Hertha hat augenscheinlich ein Problem mit fehlender Kompetenz und Leistungskultur. Das strahlt unabdinglich auf die Darbietungen auf dem Feld aus. Selten wirken die Blau-Weißen wie das willigere und cleverere Team. Und so muss der Blick - anders als in der Tabelle - nach oben gehen, zur sportlichen Führung.
Benjamin Weber und Andreas "Zecke" Neuendorf sind seit zwei Jahren am Steuer. Das Fazit fällt trotz schwerer Ausgangslage eher enttäuschend aus. Die Mannschaft hat mangels entscheidender Persönlichkeiten und Spielerprofile zu keiner Konstanz gefunden. Das eigentlich vorhandene Potenzial und immer wieder aufbauende Spiele werden von regelmäßig von unerklärlichen Einbrüchen weggespült. Die Transferbilanz ist durchwachsen, auch das Team um das Team hat an Qualität verloren. Die Frage ist, ob man das bestmögliche Personal hat - oder aber das Personal, mit dem man sich nur bestmöglich versteht.
Der "Berliner Weg" hat ein Problem
Weber und Neuendorf wurden damals von Präsident Kay Bernstein im Zeichen des "Berliner Wegs" installiert. Sie sollten die neue Marschroute der Demut und Einigkeit leben und implementieren. Zweifelsohne hat die frische Vereinsidentität in den letzten zwei Jahren für viele (weiche) Erfolge gesorgt: Hertha hat einen massiven Zuwachs an Mitgliedern erlebt, das Olympiastadion und die blau-weißen Auswärtsblöcke sind so voll wie selten, die Fans fühlen sich gesehen. Der Verein wirkt geeint, die Grabenkämpfe haben aufgehört und es wird erstmals seit vielen Jahren ruhig gearbeitet, die Geschäftsstelle erlebt eine neue Harmonie.
Doch jene Harmonie birgt die Gefahr der fehlenden Reibung. Wo uneingeschränkte Einigkeit und Kuscheligkeit herrscht, ist auch Platz für fehlende Leistungskultur und notwendige kontroverse Debatten über das eigene Handeln. Eine Wagenburg ist schneller errichtet als man glaubt, auch um sich keiner externen Erwartungshaltung beugen zu müssen. Die fehlende Gier nach Siegen, die verfrühte Lobeshymne auf Fiél, das voreilige Verlängern der Verträge von Weber und Neuendorf vor der so wichtigen Mitgliederversammlung, das Zurückrudern Herrichs von seiner Aussage, der Aufstieg 2025 sei "alternativlos" - all das sind Symptome eines Vereins, der womöglich droht, im eigenen Saft einzuschlafen.
Die Angst vor den chaotischen Zustände vergangener Jahre darf jedoch nicht die Handlungsfähigkeit bei etwaigen unpopulären Entscheidungen lähmen. Der "Berliner Weg" hat großes Potenzial. Potenzial, Hertha langfristig auf Kurs zu bringen. Aber auch das Potenzial, einen "schlafenden Riesen", der eigentlich aufstehen und aktiv werden muss, mit einer zu schweren Decke aus Fasern der Harmoniebedürfigkeit an das Bett zu fesseln. Damit das nicht geschieht, werden sich die Verantwortlichen spätestens in der Winterpause sehr unbequeme Fragen grundsätzlicher Natur beantworten müssen. Fragen, die beantworten könnten, warum Hertha auch im zweiten Zweitligjahr nichts mit dem Aufstieg zu tun hat.