Nach verlorenem Weitsprung-Weltrekord Léon Schäfer hat "mega Bock" auf die Paralympics
Bis vor ein paar Monaten war Léon Schäfer der große Gold-Favorit im Weitsprung der Oberschenkel-Amputierten bei den Paralympics. Dann wurde sein Weltrekord regelrecht pulverisiert. Gibt es in Paris die nächste Enttäuschung nach dem Lehrgeld in Tokio?
Eigentlich wollte Léon Schäfer nach einer Verletzungspause beim "Para Leichtathletik Heimspiel" seines Clubs Bayer Leverkusen auf der Fritz-Jacobi-Anlage wieder so richtig Fahrt aufnehmen Richtung Paris. Im Weitsprung und über 100 m strebt der einseitig Oberschenkel-Amputierte Gold an. Und sein Comeback kann sich sehen lassen. Der gebürtige Bremer bleibt nur acht Zentimeter unter seinem Weltrekord von 7,25 m.
Doch diese Marke - sie hat seit jenem Samstag Anfang Juli keinen Bestand mehr. Joel de Jong springt in Leverkusen nicht nur 7,67 m - er lässt vom alten Rekord nichts übrig: Mit allen seinen sechs Versuchen springt er weiter, als Schäfer jemals gesprungen ist. "Geh und reiß Dir den Arsch auf! Wir sehen uns in Paris", schickt der Niederländer vor der NDR Kamera eine Kampfansage an den Hausherren.
Schäfer musste die Leistungsexplosion seines Kontrahenten erst mal verarbeiten. "Ich habe nicht damit gerechnet, das kommt sehr überraschend", sagt der 27-Jährige, der De Jong im Mai bei der WM noch um 19 Zentimeter geschlagen hatte. "Und es tut ein bisschen weh, weil das jetzt bei mir zu Hause passiert ist."
Schock-Diagnose Krebs mit zwölf Jahren
Doch der Bremer hat schon früh gelernt, mit Rückschlägen im Leben umzugehen. Mit zwölf Jahren macht er sich als eines der größten Talente der Hansestadt Hoffnungen auf eine Karriere als Fußballer. Da kommt die Diagnose Krebs. "Meine 'Mum' hat mir das mitgeteilt. Ich wusste nicht, was heißt das jetzt. Eine Woche später ging es schon mit Chemotherapie los."
Es war ein Schock, als ich nach der OP das erste Mal unter die Decke geschaut habe und das Bein wirklich weg war.
Die Hoffnung, den Krebs zu besiegen und dann in sein altes Leben zurückzukehren, zerschlagen sich. Auch das Einsetzen einer Endoprothese (sozusagen ein Knochenersatz) scheitert. Am Ende bleibt nur noch die Amputation des Oberschenkels. "Da ist dann eine Welt zusammengebrochen für mich. Aber ich konnte daran nichts ändern und habe mich dann sozusagen damit abgefunden", blickt Schäfer zurück. Trotzdem sei es noch mal ein Schock gewesen, als er nach der OP das erste Mal unter die Decke geschaut habe, "und das Bein wirklich weg war".
"Wünschdirwas" zeigt Schäfer einen neuen Weg
Am härtesten trifft ihn allerdings das jähe Ende aller Fußballer-Träume. "Nicht, dass ich Krebs hab oder dass mein Bein weg ist. Sondern: Ich kann nicht mehr Fußball spielen. Das war mein Traum, ich hatte mir das alles schon ausgemalt. Damit hatte ich am längsten zu kämpfen", unterstreicht das große Sporttalent.
Besonders seine Mutter habe ihm damals Kraft gegeben. Für neuen Mut sorgt allerdings der Kölner Verein "wünschdirwas", der auf der Kinderkrebsstation an Léon und seine Familie herangetreten war. Nach der Amputation wollte er unbedingt einen Parasportler treffen, der ihm zeigt, wozu ein Mensch mit einer Sportprothese in der Lage ist. Gesagt, getan.
Markus Rehm entfacht in ihm das Feuer
An das erste Treffen mit Léon Schäfer erinnert sich Markus Rehm noch ganz genau. Der 13-Jährige, dem ein Jahr zuvor das rechte Bein amputiert worden war, beeindruckte den aufstrebenden Weitsprinter von Bayer Leverkusen enorm. "Damals habe ich direkt zu Jörg Frischmann gesagt, unserem Geschäftsführer: 'Hey, den brauchen wir. Der wird mal ein Guter, der kann es richtig weit bringen.'"
Es war nicht nur der Körperbau des Jungen, der bis zu seiner Krebserkrankung von der großen Fußballkarriere geträumt hatte. "Er war von Anfang an extrem reflektiert. Er hat genau gewusst: Hey, das ist nicht das Ende. Sondern es geht jetzt ein anderer Abschnitt los", erklärt Rehm. "Das war für das Alter damals extrem reflektiert und wahnsinnig erwachsen."
Ich wollte ihm gar nicht sagen, dass er Medaillen gewinnen muss. Aber ich wollte ihm zeigen, dass es auch so gehen kann. Das könnte ein Weg sein.
Rehm, mittlerweile viermaliger Paralympics-Champion, fühlte sich auch an sich selbst erinnert. Er verlor als Jugendlicher bei einem Wassersport-Unfall einen Unterschenkel. Auch er habe damals unbedingt jemanden treffen wollen, der eine Prothese trägt. Beteuerungen von Freunden und Familie, dass "alles wieder gut wird", konnte er nicht glauben. Deshalb sei für ihn auch sofort klar gewesen, dass er den jungen Léon Schäfer treffen würde.
"Ich wollte ihm gar nicht sagen, dass er Medaillen gewinnen muss. Aber ich wollte ihm zeigen, dass es auch so gehen kann. Das könnte ein Weg sein", betont Rehm. "Ob es deiner ist, weiß ich nicht. Aber es könnte einer sein. Ich glaube, das ist wichtig. Und ich glaube, dass er schnell gemerkt hat, dass es seiner sein könnte."
Schäfers Para-Karriere nimmt schnell Fahrt auf
Schäfer blickt mit einem Lächeln zurück: "Markus hat mich an die Hand genommen und mir ein bisschen gezeigt, was möglich ist und was geht." Der Jugendliche hatte bis dahin nur eine Alltagsprothese. "Eigentlich hat mir wirklich schon gereicht zu sehen, wie schnell er läuft." Nach dem gemeinsamen Wochenende habe bereits festgestanden: "Das hat in mir das Feuer ausgelöst. Das will ich auch machen."
Und die Erfolge ließen nicht lange auf sich warten. Er räumte Medaillen und Pokale ab, heimste "ein paar Junioren-Weltrekorde" ein. Zuerst im Hochsprung. Beim Wechsel in den Erwachsenenbereich merkte er jedoch schnell, dass er noch mehr an sich arbeiten musste. Nach dem Abitur 2016 zog Schäfer nach Leverkusen, "um den nächsten Step zu machen".
Erster Oberschenkelamputierter, der sieben Meter springt
2016 wurde er für die Paralympics nachnominiert und lernte den wirklich großen Sport kennen. Ein Jahr später holte er mit der 4x100-m-Staffel WM-Gold. Schäfer war der erste Oberschenkelamputierte, der über 7 Meter sprang. Dass es mit 7,24 m gleich so weit ging, "war ein sehr geiles Gefühl. Ich habe eine Barriere durchbrochen."
Bei den Paralympics in Tokio war der damals 24-Jährige dann großer Gold-Favorit. "Vielleicht war ich mir zu sicher, dachte, ich würde das locker schaukeln", gesteht Schäfer heute ein. Nach technischen Problemen mit seiner Prothese wurde es allerdings "nur" Silber. Er zahlt Lehrgeld, weil er das nötige Ersatzteil für seine Prothese nicht dabei hat.
Schäfer sicherte sich bei der WM in Kobe 2024 den Titel im Weitsprung.
2023 in Paris krönte er sich dann zum Weitsprung-Weltmeister - und verteidigte den Titel in diesem Jahr. Vier Jahre lang verbessert er zwar ein ums andere Mal seinen Weltrekord. In dieser Zeit springt allerdings nie ein Konkurrent weiter als der Athlet aus Leverkusen. Und dann kommt Joel de Jong.
Rehm von De Jongs Weltrekord "nicht überrascht"
Als Rehm von dem Weltrekordsprung hört, ist er gerade in der Umkleide. "Ich war nicht überrascht. Joel hat einfach ein gutes Gefühl fürs Springen, das habe ich immer gesehen", sagt der Experte. "Aber dass er diese Weite gleich in dieser Konstanz springt, war schon heftig." De Jong habe diese Weiten schon immer drauf gehabt. Der Niederländer habe seine Fähigkeiten beim Anlauf und Absprung nur "nicht kontrolliert bekommen".
Dass in Leverkusen gleich darüber spekuliert wird, ob De Jong etwas an seiner Prothese geändert hat, kann Rehm verstehen, hält aber dagegen: "Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass man ein bisschen was umstellt und schon springt man viel weiter. Klar, die Prothese ist wichtig, aber sie springt nicht für dich." Rehm muss es wissen: Er ist nicht nur der Para-Weitspringer, der weiter gesprungen ist als jeder andere. Er ist selbst gelernter Orthopädietechniker-Meister.
Außerdem rät Rehm dringend davon ab, so kurz vor den Paralympics grundsätzliche Änderungen an der eigenen Prothese vorzunehmen. "Es muss einfach passen. Man muss der Prothese auch den richtigen Rhythmus geben können."
Schäfer-Trainer findet De Jongs Sprünge "sporthistorisch"
Schäfers Trainer Erik Schneider findet De Jongs Auftritt in Leverkusen "wirklich sporthistorisch". Der Coach ging unmittelbar nach dem Wettkampf schon davon aus, dass "die Challenge" seinem Schützling "noch mal ein bisschen Schärfe verschafft. Das ist das, was er liebt und braucht. Das wird ihn nach vorne bringen, davon bin ich fest überzeugt." Wenngleich Schneider lachend einräumt, dass es zur Motivation nicht gleich "so ein weiter Satz" hätte sein müssen.
Rehm beschreibt seinen Club-Kollegen als "wahnsinnig nervenstark" und als jemanden, der "sich kaum aus der Ruhe bringen lässt". Und Rehm ist überzeugt, dass Schäfer "so viel Potenzial noch nicht abgerufen" habe.
Die Sprünge von De Jong "sind im ersten Moment sicher ein harter Dämpfer gewesen. Das kann gar nicht anders sein. Aber jetzt ist Léon darauf vorbereitet, dass Joel so weit springen kann. Und er kann darauf noch reagieren. Ich erwarte einen spannenden Wettkampf."
Schäfer gibt sich selbstbewusst - und hat eine zweite Chance
Und was sagt Schäfer zu seinen Chancen? Seine Angriffslust ist schnell wieder da: "Mein ganzer Fokus liegt auf Paris. Ich kann Gold auf jeden Fall packen - das ist nicht nur ein Traum", betont der 27-Jährige, der für seine drei Wettkampftage die Maximalzahl von je zehn Eintrittskarten für Freunde und Familie ausgeschöpft hat. De Jongs Herausforderung - Schäfer hat sie angenommen.
Gute Medaillenchancen - im Weitsprung und über 100 m.
Und sollte es im Weitsprung doch nicht reichen? Auch über die 100 m gehört Schäfer zum Favoritenkreis. In Kobe holte er seinen ersten WM-Titel - und verbesserte in 12,03 Sekunden sogar noch den deutschen Rekord seines Mentors Heinrich Popow. Für Schäfer gibt es also zwei gute Chancen auf eine Medaille - und der Doppelweltmeister sagt mit Blick auf die Paralympics: "Ich habe mega Bock auf die Spiele."