Paralympics-Medaillenhoffnung über 100 m Brust Krawzow - "Der Krebs hat sich die Falsche ausgesucht“
Elena Semechin, die im Sport weiter unter ihrem Mädchennamen Krawzow antritt, brauchte drei Anläufe: Nach Rio und London klappte es in Tokio endlich mit der ersehnten Paralympics-Goldmedaille. Doch dann kam der Schock: Gehirntumor! Dass sie in Paris an den Start geht, grenzt schon an ein Wunder.
Gemeinsam mit ihrem Ehemann Philipp Semechin sitzt Elena im Wartezimmer der Berliner Charité. Sie kommt gerade aus dem MRT. Sie ist müde und steht gleichzeitig unter Strom. Philipp hält ihre Hand. Das Paar kennt die Situation. Alle fünf Monate wird Elena Kontrastmittel gespritzt, dann folgt die Untersuchung - ist der Krebs zurück?
Die Neurochirurgin Ran Xu überbringt nach Ansicht der Aufnahmen die gute Nachricht: "Erfreulicherweise ist es ein stabiler Befund." Und das Paar atmet auf. "Es ist wirklich sehr inspirierend und beeindruckend, wie Sie das machen. Richtig toll", betont der Ärztin. "Ich gebe mein Bestes", sagt die sichtlich erleichterte Patientin.
Hinter Elena und ihrem Mann, der zugleich ihr Trainer ist, liegt eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Aber Elena ist gesund und sagt voller Selbstbewusstsein: "Der Krebs hat sich die Falsche ausgesucht. Der Krebs hat es nicht geschafft, die Kontrolle über mein Leben zu übernehmen."
Sehrest von nur noch zwei Prozent
Die gebürtige Kasachin hat in ihrem Leben schon einige Widerstände überwinden müssen. In der Grundschule merkte die Familie, dass die Siebenjährige nicht richtig sehen konnte. Schubweise wurde die Sehfähigkeit dann immer schlechter - in der Pubertät waren die Schübe am häufigsten und am schlimmsten. Den letzten Schub hatte sie vor einigen Jahren, ihre Sehfähigkeit beziffert sie noch auf zwei Prozent: "Ich sehe sehr unscharf, Kontraste und ein bisschen Farben. Aber ich kann keine Gesichter erkennen. Für mich sind die Menschen nur als Silhouetten unterwegs."
Schwimmen als "ein Tor in die Welt"
Kurios: Eigentlich mag sie das Wasser gar nicht. Eine "Wasserratte" sei sie jedenfalls nicht. "Aber ich habe gemerkt, dass der Schwimmsport für mich ein Tor in die Welt ist." Hier kann sie allen beweisen, was sie draufhat. Jahrelang sei ihr immer nur gesagt worden, was sie nicht könne und was sie nicht schaffen würde.
Sich selbst beschreibt Krawzow als "ein bisschen größenwahnsinnig". Auf einen Blindenstock verzichtet sie ganz bewusst. Es würde sie sonst stören, immer etwas in der Hand zu haben. Die Folge sind regelmäßig blaue Flecken und Beulen. Dieses Draufgängertum hilft ihr aber beim Schwimmen, denn auch dort schont sie sich nicht.
"Als Brustschwimmerin kann ich mir auch über die Züge Orientierung verschaffen. Inzwischen weiß ich, wie viele Züge ich für eine Bahn brauche und wann ungefähr die Wand kommt", erzählt die Athletin vom Berliner Schwimmteam, um hinzuzufügen: "Aber klar geht öfters was schief. Ich habe mir auch da schon Finger gebrochen und Bänder gerissen. Das gehört dann dazu."
Paralympics-Gold im dritten Anlauf
Krawzow ist mehrfache Welt- und Europameisterin. Ihre Paradestrecke sind die 100 m Brust. Bei ihrer Paralympics-Premiere 2012 in London verpasste sie das Podest noch. 2016 in Rio war es schon Silber. Corona-bedingte fünf Jahre später klappte es dann in Tokio mit dem Traum von der Goldmedaille.
Ich traue Elena alles zu. Sie ist so stark im Kopf. Sie kann sich so sehr fokussieren auf ihre Ziele - trotz vieler Dinge nebenher, die sie nicht nur emotional, sondern auch zeitlich in Anspruch nehmen. Das habe ich so noch nicht erlebt.
"Als die Spiele in Tokio vorbei waren, habe ich es so sehr genossen", blickt sie zurück. Doch sie wurde von Kopfschmerzen geplagt und die gingen nicht weg. Am Tag des MRT-Termins, der den Schmerzen auf den Grund gehen sollte, waren Elena und Philipp beim Juwelier - die Ringe für die geplante Hochzeit aussuchen.
Die Diagnose riss sie dann "von Wolke sieben auf den Betonboden. Das war wie so ein Aufprall", beschreibt Elena. Und ihr Ehemann erklärt rückblickend: "Gerade hatte sie ihren größten sportlichen Erfolg überhaupt als Paralympics-Siegerin gefeiert. Und keine drei Monate später weißt du nicht, ob sie noch ein Jahr leben darf."
Hochzeit am Tag vor der Gehirn-Operation
Elena wollte stark sein, wusste aber auch um die Risiken: "Der Tumor war in der Nähe des Sprachzentrums, des Motivationszentrums und des Persönlichkeitszentrums. Also alles das, was für mich so enorm wichtig ist." Als wäre die Lage nicht schon schlimm genug, war der Tumor diffus. Es war nicht richtig auszumachen: Was ist Gehirn und was der Tumor. "Und wenn sie nur einen Millimeter daneben schneiden und mir irgendwas abhacken, dann kann es total in die Hose gehen."
Das Paar heiratete noch kurz vor der Operation. "Es war wichtig für mich, dass ich mein Ja-Wort noch selbst in einem vernünftigen Zustand sagen konnte", betont Elena und ergänzt: "Das war im Nachhinein vielleicht egoistisch. Aber es ist ja alles gut gelaufen."
Als sie nach der OP aufwachte, war sie "total benebelt" und hatte "irre Durst". Als ein Pfleger ihr sagte, dass sie noch nichts trinken dürfe, sprach sie einfach den nächsten Pfleger an. "Von dem habe ich dann auch was zu trinken bekommen. Da wusste ich: Ich bin noch die alte Elena."
"Als Ehemann grenzwertig, was der Trainer verlangt"
Sieben Tage nach der OP tauchte sie mit bandagiertem Kopf wieder beim Training auf. "Das war schon verrückt. Aber das war die Elena, die ich als Trainer kannte", sagt Philipp, der in den folgenden Wochen und Monaten zwei Leben führte: Als Trainer sei es ein Wunder gewesen, wozu die Schwimmerin imstande war. "Als Ehemann war das grenzwertig, was der Trainer da verlangt hat."
Der Sport gab der Rekonvaleszentin allerdings während der Chemotherapie und der Bestrahlung den nötigen Halt. Wenn sie sich schlecht fühlte, wollte sie die körperlichen Probleme zumindest auf ihren Einsatz beim Schwimmen schieben können. Und sie ist sich sicher: "Hätte ich mich darauf ausgeruht, dass ich jetzt Chemo mache und sonst nichts, dann wäre ich nicht mehr in den Sport zurückgekommen."
Von der Ausdauer-Athletin zur explosiven Sprintexpertin
Aber die Angst schwimmt immer mit: Bei bestimmten Arten von Kopfschmerzen habe sie Flashbacks in die Zeit vor der OP. Auch eine Panikattacke musste sie schon überstehen. "Ich weiß, dass der Krebs zurückkommen kann. Ich rechne immer damit, dass sich alles von null auf hundert verändern kann im Leben", sagt Elena.
Verändert hat sich zumindest ihr Training. Früher war die Ausdauer ihre große Stärke. Bis zu 75 Kilometer sei sie schon mal in einer Woche Trainingslager geschwommen, berichtet der Coach. Nach der OP seien es maximal 45. Nun arbeitet sie deutlich mehr an ihren Sprintfähigkeiten. Explosivität, Power und Maximalkraft stehen im Vordergrund.
Ziel: Noch schneller zu Gold als in Tokio
Ihr Comeback ist schon jetzt gelungen: Im vergangenen Jahr siegte sie bei der Para-WM über die 100 m Brust. Das reicht ihr allerdings noch nicht: Sie hat sich selbst die Challenge gestellt, auch noch mal Paralympics-Gold zu gewinnen - und das in besserer Zeit als in Tokio.
Dabei helfen soll die Stimmung in Paris, nach der Corona-Tristesse in Japan. Die Paralympics 2024 sollen "elektrisierend" werden. "Sehr emotional" dürften sie nach all den Wirrungen der vergangenen Jahre auf jeden Fall werden.