Der schwedische Diskuswerfer Daniel Stahl
analyse

Busemanns WM-Kolumne Mindset, oder minimale Nuancen im High-End-Bereich

Stand: 21.08.2023 23:59 Uhr

Was zeichnet einen richtig guten Sportler aus, also einen, der gewinnt? ARD-Leichtathletik-Experte Frank Busemann hat da so eine Theorie.

Mindset heißt es immer. Das muss stimmen, dann klappt's auch mit dem Gewinnen. Das ist eine ganz einfache Formel. Kurz runtergebrochen: Form x Wille zum Quadrat = Gold. Einstein würde vielleicht schreiben: Au = fw2. Und das Beste ist: Man muss keinen IQ vom weisen Albert haben, man muss seine Gedanken nur exzellent fokussieren. Noch so eine Metapher im heiligen Leistungssport. Voll fokussiert auf den Punkt abliefern.

Rumschlingern ist halt verboten

Aber das ist schwer. Weil nicht nur alle gut trainiert sind, sondern auch alle gut fokussiert sind. Okay - die meisten. Na ja - also nicht alle. Rumschlingern ist halt verboten. Das ist mal sicher. Wer da auf den Platz kommt und nicht gewinnen will, der schafft das auch. Andersrum ist schwieriger.

Wir können ja mal überlegen, was einen richtig guten Sportler auszeichnet, also einen, der gewinnt. So richtig kann ich da nicht mitreden, weil meine Siege eher bei den Kreismeisterschaften von Gelsenkirchen waren, aber ich habe da so meine Theorie.

Talent ist die Grundlage, aber dann ...

Talent muss da sein. Check. Viele sagen auch, dass Fleiß sehr viel Talent ersetzen kann. Also fleißig muss der Athlet oder die Athletin sein. Er oder sie muss gute Rahmenbedingungen vorfinden, gefördert und gefordert werden. Er muss richtig aufgebaut und begleitet werden. Er geht Entbehrungen ein, die für ihn keine sind, weil er genau das macht, was er als richtig und wichtig für seinen Sport empfindet. Und somit muss er oder sie eine unfassbare Liebe zu dem mitbringen, was tagein tagaus für die nächsten zehn bis zwanzig Jahre den Alltag bestimmt und Lebensmittelpunkt wird.

Es gibt Verletzungen, es gibt Zweifel, es gibt keine Verbesserung, es gibt Niederlagen. Es gibt viele, kleine Dinge, die richtig blöde sind auf diesem Weg nach oben. Den sieht aber keiner. Nur die Protagonisten selbst. Alle diejenigen, die da in Budapest am Start sind, wissen, was es heißt zu zweifeln, enttäuscht zu sein und manchmal am liebsten die Brocken einfach hinzuschmeißen und sich von dieser Geißel der Ungewissheit zu befreien. Doch es würde ihnen was fehlen. Sie streben nach etwas, das sich für kein Geld der Welt kaufen lässt. Außergewöhnlich emotionale Erlebnisse, die sich in Bruchteilen von Sekunden wie ein Donnerschlag den Weg in die Freiheit bahnen und rausgelassen werden.

Und sie lassen uns daran teilhaben. Am dritten Wettkampftag der WM haben wir das wieder eindrucksvoll erleben dürfen. Der Sprint ist so ein Paradebeispiel. Etwas weniger als elf Sekunden Arbeit für lebenslange Erinnerung. Nur elf Sekunden und ein bisschen weniger? Das ist natürlich Quatsch, denn all diejenigen, die da am Start sind, haben vielleicht 1.000 Stunden im Jahr trainiert, um im Wettkampf bestens präpariert an den Start zu gehen. Und das machen sie jahrelang.

Aber in dieser kurzen Zeit, wenn sich alles auf die Leistungsexplosion verdichtet, ist es vollkommen egal, was um einen rum passiert, welche Geräusche da sind, wie lang der Starter wartet, wie der Wind weht, die Sonne brennt, die Bahn glüht. Da gibt es nur mich. Mich. Mich. Kein links. Kein rechts. Kein gut, kein schlecht, nur hier und jetzt.

Stahls Energie lag 70 Meter entfernt vor ihm

Doch dann wirft plötzlich ein anderer weiter. Kristjan Ceh hat gesehen, dass ihm andere einen Titel nehmen wollten, den er ganz gern haben wollte. Und warf im letzten Versuch noch ein bisschen weiter. Es gab also neben ihm ganz allein ganz andere, die allein dafür verantwortlich waren, dass er seinen Fokus nochmal ganz scharf nachstellte und richtig einen raushaute. Aber: gleiches Spiel, anderer Werfer.

Der Schwede Stahl dachte nach Cehs 70er wohl ähnlich. Und er fokussierte sich noch mehr, verdichtete sich nochnoch mehr und warf nochnochnoch weiter. Ein Thriller. Ekstase in der Betrachtung. Stahl kniete sich versteinert hin und zeigte nur statuengleich ein paar Muckis. Von meiner eben beschriebenen emotionalen Verausgabung sah man nichts. Aber er war glücklich. Vermute ich mal. Der hat alle Energie in den Wurf gesteckt. Der war leer. Seine Energie lag 70 Meter entfernt vor ihm auf der Wiese.

Die anderen sind Ansporn, noch schneller zu laufen

Eine andere, die rumflippte, wie ein ausgeflippte Flipperkugel, war Sha'Carrie Richardson. Im Frauensprint war es so eng und erstklassig wie lange nicht mehr und wir reden über "Pocket Rocket" Fraser-Pryce. Das macht schon Eindruck, wenn die Seriensiegerin antritt und der normale Gedanke einer jeden Gegnerin ist: "Au Backe, das wird heute nix." Das ist dann auch Mindset. Das gibt's in der individuellen Ausprägung und man kann die Gegnerschaft genau darin beeinflussen. Oder man macht den Stahl und fühlt sich durch so viel Erfolg getriggert. Kann ich auch, will ich auch, mach ich auch. Hier und jetzt. Und die anderen sind Ansporn, noch schneller zu laufen.

Es ist ein verdammt schönes Gefühl, alle Kraft und Energie in diese kurze Zeit zu laden. Der Optimismus ist der einzig vorhandene Gefühlszustand. Trotzdem sind Aufregung und Nervosität ständige Begleiter, die genutzt werden können. Müssen. Sonst gewinnt ein anderer.

Minimale Nuancen im High-End-Bereich

Aber, es gibt nicht diese eine Strategie zum Erfolg. Das Thema ist zu komplex für eine Seite. Jeder Kopf funktioniert anders, jede Geschichte ist anders, jeder Fokus ist anders. Es ist nur ein Überbegriff für etwas, das wir bewundern und kaum greifen können. Wir wissen nur, dass es da ist und eine Wertung festlegt, die eigentlich nicht gemessen werden kann, da Nuancen im High-End-Bereich minimale Nuancen sind, die dann aber den kleinen und feinen Unterschied machen können zwischen gewinnen und nicht gewinnen.

Dieses Thema im Programm: Das Erste | Sportschau | 20.08.2023 | 07:00 Uhr