Der US-amerikanische Kugelstoßer Ryan Crouser
analyse

Busemanns WM-Kolumne Sind Sportler im Wettkampfmodus zurechnungsfähig?

Stand: 19.08.2023 23:25 Uhr

Im Sport gehen Menschen manchmal über Grenzen hinaus, so auch Ryan Crouser. Der startete und gewann bei der WM im Kugelstoßen - obwohl er kurz zuvor Blutgerinnsel hatte. Wann muss man Sportler bremsen? Das fragt sich ARD-Leichtathletik-Experte Frank Busemann.

Sport ist gesund, heißt es im Allgemeinen. Doch wenn wir nach Budapest zu den Weltmeisterschaften schauen, merken wir schnell, dass dem im Speziellen nicht so ist. Der Leistungssport ist eine grenzwertige Belastung, die aus letzten Prozentpünktchen exponentielle Leistung hervorquetscht. Deshalb hören Leistungssportler auch schnell mal Muskelfasern hüsteln, die Erna von der Finnenbahn noch nicht mal kennt.

Es ist das Dilemma des Hochleistungssports, der Sportler muss zu 100 Prozent davon überzeugt sein, dass alles klappt und ihm auf dem Weg zum Erfolg nichts passiert, aber er muss so unglaublich feine Antennen für sich und seinen Körper haben, dass er jedes Signal erkennt, bewertet und verwertet, dass ihm das manchmal im Weg steht.

Frank Busemann

Frank Busemann

Blutgerinnsel? Crouser startet trotzdem

So wie dem Weltrekordler Ryan Crouser die Tage. Einen Tag vor dem Kugelstoßwettbewerb meldete er sich per Social Media mit einem Schwarz-Weiß-Bild zu Wort, indem er seine letzten 20 Tage beschrieb. Schmerzen in der Wade entpuppten sich als Blutgerinnsel. Panik und Verzweiflung machten sich breit. Der Arzt untersuchte ihn, behandelte ihn und gab ihm mit auf den Weg, er müsse über seinen Start selbst entscheiden.

Und was macht der? Na klar, er startet. Geht nicht anders, so sind Sportler. Gesund und vernünftig ist das nicht. An seinem Post sah man aber auch die Verzweiflung. Jetzt, da er gewonnen hat, kann man vielleicht sagen, der war nicht gut drauf, und wollte das Feld ein wenig nervös machen? Die Siegweite von 23,51 Meter und fast Weltrekord sprechen aber eher dafür, dass er sich vor lauter Furcht zusammenriss und wirklich Angst hatte. Autonome Reserven sind dafür da im Angesicht des Todes dem Säbelzahntiger zu entkommen.

Für den Athleten gibt es nur das Hier und Jetzt

Da stellt sich dann immer die Frage: Wie weit darf der Sportler gehen, wann muss man ihn einbremsen? Sind Sportler im Wettkampfmodus zurechnungsfähig oder benötigen sie einen Vormund? Für den Athleten gibt es nur das Hier und Jetzt, den Lebensmittelpunkt Sport. Alles ist diesem einen Ziel untergeordnet, alles auf diese ein, zwei Tage verdichtet und plötzlich streikt der Körper. Das darf nicht sein.

Als ich mit 25 Jahren feststellen musste, dass der Körper nicht unbegrenzt belastbar ist, war das ein grundlegender Schock. Ich dachte bis dahin, die Zeit heilt alle Wunden und sonst hilft eine Operation. War wohl nix. Irgendwann ist Schluss und dann kommt die dicke Keule. Eine weise Erkenntnis, die mich traf wie ein Blitz hilft mir heute als Gesundheitssportler dem Körper mehr Beachtung zu schenken. Aber ich mache Bauch-Beine-Po und geh joggen. Ich laufe kein Weltrekord. Und ich habe drei Kinder. Ich muss auf mich aufpassen. Können, dürfen und machen Leistungssportler aber nur bedingt.

Adrenalingeschwängertes Urteilsvermögen

Der Schmerz ist ein steter Begleiter, erstklassige Leistung ist nicht normal. Trotzdem müssen sie mit dem Potenzial Körper haushalten und das sehen wir hier in Budapest.

Viele erkennen ihre eigene Verantwortung sich selbst gegenüber, können sehr gut abschätzen, wie sehr sie sich über den Schmerz belasten dürfen, andere versuchen das abzuschätzen, obwohl das Urteilsvermögen adrenalingeschwängert ist. Aber in tiefstem Herzen sind Leistungssportler Optimisten, die denken, dass es schon klappt. Sonst würden sie nicht gewinnen. Geht nicht anders. Ist aber schwer. Verdammt schwer.

Dieses Thema im Programm: Das Erste | Sportschau | 20.08.2023 | 07:00 Uhr