Busemanns WM-Kolumne Lyles, Ingebrigtsen und Co. - Wer Faxen macht, muss liefern
100-m-Weltmeister Noah Lyles fuchtelt schon vor dem Ziel mit dem Zeigefinger, Ausnahmeläufer Jakob Ingebrigtsen animiert auf der Zielgeraden das Publikum. Wo endet Fairness und wo beginnt Überheblichkeit? Ja, wir brauchen Typen, meint ARD-Leichtathletik-Experte Frank Busemann, aber die Show ist ein schmaler Grat.
Wir haben einen neuen schnellsten Mann der Welt. Ein prestigeträchtiger Titel, sozusagen ein Adelsprädikat. Und Adel verpflichtet. Makelloses Auftreten. Vorbildliches Verhalten. Zeitlose Eleganz in der äußeren Darstellung innerer Werte. So würde es vielleicht in der Stellenbeschreibung stehen. Der heißeste Anwärter auf den Titel bringt allerdings noch einige andere Qualitäten mit: Showtalent, dicke Backe, große Sprüche und Wortgewandtheit. Sein Name: Noah Lyles.
Früher in Socken mit Flügelchen unterwegs, ist er der Inbegriff des Overstatements. Ein Typ, nach dem Medien und Fans lechzen. Komplett überdreht. Mit deutscher Gründlichkeit beschrieben: drüber.
Darf der das? Ja! So lange er gewinnt, darf der das. In den USA. International. In Deutschland rümpfen wir schnell die Nase. Weil der Fall bei hoher Flughöhe wirklich tief sein kann. In den USA knallen sie auf den Boden und stehen wieder auf und die anderen stauben einen ab. Hier sagt man oft: Habe ich doch gesagt, das kann nicht gutgehen. Der ist nur damit beschäftigt rumzualbern, der ist kein Profi. Aber vielleicht ist genau das sein Ventil?!
Der neue Titelträger Lyles ballerte also seinen Zwischenlauf herunter und fuchtelte nach 70 Metern wild mit dem Zeigefinger herum. Weil sich Sprinter schnell bewegen und ich mittlerweile immer älter werde, fragte ich mich, was dieses Zucken wohl war? Bohrte er sich in der Nase, rückte er sein Kettchen zurecht, damit das Zielfoto hübsch ausfällt?
Nein, in der Zeitlupe sah ich, er zeigte den Finger, scheinbar von Gefühlen übermannt, er wollte zeigen: "Yeah, I'm the man!", "Here I am!", "That’s me!", "I’m fast, very fast! And that is crazy!" Wer solche Faxen macht, der muss halt liefern. Und ein Typ sein.
Wo endet Fairness und wo beginnt Überheblichkeit?
Jakob Ingebrigtsen, seines Zeichens Ausnahmeläufer aus Norwegen, hatte im 1.500-m-Halbfinale wahrscheinlich auch in die Trickkiste greifen und auf den letzten 100 Metern das Publikum animieren wollen. In der Situation setzte er sich allerdings nicht wirklich mit seinen Gegnern auseinander, die zu dem Zeitpunkt noch nicht gänzlich überholt waren.
Aber was war der Unterschied zu Lyles? Eine ähnliche Ausgangssituation, eine andere Wirkung. Das kam nicht überall gut an. Es wirkte arrogant und deplatziert. Aber muss es immer überall gut ankommen? Wo endet Fairness und wo beginnt Überheblichkeit? Auch das liegt im Auge des Betrachters.
Show ist ein schmaler Grat
Die Show ist ein schmaler Grat, wenn man nicht im Zirkus oder im Varieté ist. Der Sport ist erstmal Sport und dann noch ein bisschen mehr. Zudem gibt es meist auch kein Drehbuch, es ist nicht geplant. Wenn doch, dann ist es nicht echt und nicht emotional. Die gleiche Geste kommt bei einem an, beim anderen nicht. Ein Fingerzeig bei einem arrogant, beim anderen kindisch, beim nächsten martialisch. Es kommt auf die Situation, den Athleten und noch mehr an. Der Flitzebogen von Usain Bolt war ein Markenzeichen, sein Markenzeichen, würde das jemand anderes machen, wäre das seltsam.
Ja, wir brauchen Typen. Die müssen aber auch liefern, ein Standing haben und mit der Show eins werden, dass sie auch in der Niederlage akzeptiert werden, weil sie authentisch sind. Eine ganz enge Kiste. Und wer das beherrscht, der begeistert die Massen. Wer das nicht beherrscht, der hat die Massen gegen sich und dann wird’s doppelt schwer.