FIFA WM 2022 Darum kann Marokko auch Spanien ärgern
Spektakel war gestern, Ergebnisfußball ist heute. Marokkos Trainer Walid Regragui verordnet seiner Mannschaft einen Langweiler-Stil und steht dafür in der Kritik. Gegen Spanien könnte aber genau das zum Trumpf werden.
Es klingt absurd. Aber ginge es nach zahlreichen Experten und einigen Medienvertretern in Marokko hätte Nationaltrainer Walid Regragui nach dem ersten WM-Spiel seinen Job verlieren müssen. Das 0:0 seines Teams zum Auftakt gegen Kroatien, wohlgemerkt immer noch Vize-Weltmeister, wurde in Nordafrika eher als verpasste Chance denn als Erfolg gesehen. Tenor: Marokko spielt zu langweilig, Marokko spielt zu defensiv.
Regragui hat Marokko verändert
"Viele haben die Art und Weise kritisiert, wie wir im ersten Spiel aufgetreten sind", machte Regragrui seinem Ärger auf einer Pressekonferenz Luft. Bei den vergangenen WM-Turnieren seien immer wieder Mannschaften aus Afrika mit spektakulärem Fußball früh ausgeschieden. Das sei nicht sein Ansatz, wetterte er: "Wir wollen unser Land stolz machen – egal auf welche Weise." Heißt: Hauptsache weiterkommen, gerne auch mit dreckigen Siegen.
Vor dem Achtelfinal-Spiel gegen Spanien lässt sich festhalten: Das hat funktioniert. Marokko steht erstmals seit 36 Jahren und der WM 1986 in Mexiko wieder in der K.o.-Runde und bildet aktuell die Antithese zum Team der vergangenen WM in Russland.
Lob von Ronaldo
Vor vier Jahren entzückte die Mannschaft des damaligen Nationaltrainers Hervé Renard die Fußballwelt zwar mit gnadenlos schönem Kombinationsspiel und wurde zum Liebling der Fan-Massen. Da bei aller Genialität aber die Effizienz komplett auf der Strecke blieb, schied Marokko nach zwei Niederlagen zum Auftakt als erste Nation überhaupt aus. "Sie waren wirklich stark", verteilte damals selbst Superstar Cristiano Ronaldo aufmunternde Schulterklopfer, um dann den entscheidenden Satz hinterherzuschieben: "Aber wir haben gewonnen."
Marokko macht die Abwehr dicht
Und da Fußball nun mal, wer wüsste das besser als das Phrasenschwein, ein Ergebnissport ist, setzte der aktuelle Coach Regragui genau an dieser Stelle an. Der in Frankreich geborene 47-Jährige, zu seiner aktiven Karriere ein Rechtsverteidiger der rustikalen Art, trieb Marokkos Nationalteam die Schönspielerei aus und verordnete mehr Disziplin. "Wir müssen uns den europäischen State of Mind aneignen und sagen: Wir wollen weiterkommen! Nichts anderes zählt", fasste Regragui seine Auffassung von Fußball zusammen und ließ dann Taten folgen.
Seit seiner Amtsübernahme im August – Vorgänger Vahid Halilhodzic war in Ungnade gefallen und musste gehen – spielte Marokko in sechs Partien fünfmal zu Null. Der einzige Gegentreffer resultierte aus einem Eigentor von Nayef Aguerd beim 2:1-Sieg gegen Kanada, den Rest verteidigte die Abwehr um Achraf Hakimi von Paris St. Germain und Noussair Mazraoui vom FC Bayern sauber weg. Brotlos war früher, gegentorlos ist jetzt. Und genau das könnte auch Spanien Probleme bereiten.
Marokko muss Spanien wehtun
Die hochtalentierte Elf von Trainer Luis Enrique geht zwar als klarer Favorit in die Partie. Dass Feingeister wie Gavi, Pedri, Dani Olmo oder Ferran Torres gegen körperlich robuste Teams gerne mal zurückziehen, war aber in zahlreichen Spielen der Europa League, der Champions League und auch bei der aktuellen WM zu beobachten. Wer Spanien spielen lässt, bekommt die Quittung. Wer Spanien auf die Füße tritt, erhöht zumindest die Sensations-Chancen.
Vorne wirbeln Stars wie Ziyech
"Wir müssen das Spiel der Europäer kopieren und unsere eigenen Werte einbringen. Wenn wir das machen, gewinnen wir", betonte Regragui deshalb selbstbewusst. Hinten braucht Marokko harte Arbeit, vorne müssen Individualisten wie Hakim Ziyech vom FC Chelsea, Youssef En-Nesyri vom FC Sevilla oder der in Frankfurt aufgewachsene Abdelhamid Sabiri für die Tore sorgen.
Marokko glaubt an die Sensation
Klar ist: Marokko hat sich unter Trainer Regragui deutlich weiterentwickelt und hat definitiv das Zeug, um Spanien zu ärgern. Die Qualität im Team ist da, der Zusammenhalt könnte zum zusätzlichen Trumpf werden. "Unser Team ist mehr als ein Team, wir sind eine Familie", schwärmte der Ex-Dortmunder Hakimi. "Unsere Generation ist da, um Geschichte zu schreiben."