Superstar hemmt eigenes Team Portugal hat ein Ronaldo-Problem
Obwohl Portugal gegen Slowenien ins EM-Viertelfinale einzieht, bleibt dieses Team ein Rätsel. Dass immer noch alle auf einen Geniestreich von Cristiano Ronaldo warten, grenzt an Verschwendung von Talent.
Als neutraler Fußball-Fan und -Beobachter sind Spiele von Cristiano Ronaldo mitunter schwer zu ertragen. Sobald der Superstar das Stadion betritt, wird der Rasen zur Bühne und das Fußballspiel zu einer großen Show. Beinahe jede Aktion wirkt wie eine Inszenierung, selbst beim Aufwärmen flippen einige Fans schon aus. Spätestens nach dem EM-Achtelfinale gegen Slowenien am Montagabend (01.07.2024) in Frankfurt stellt sich jedoch die Frage: Warum eigentlich?
Die Legende spielt nicht mehr wie eine Legende
Klar, die Gründe für die bedingungslose Liebe liegen auf der Hand und in der Vergangenheit. Ronaldo ist neben Eusebio der größte portugiesische Fußballer aller Zeiten und wird in seinem Heimatland für immer ein Volksheld bleiben. Der 39-Jährige hat sich den Status der lebenden Legende redlich verdient. Aber auch eine Legende muss irgendwann in Rente gehen. Zum Wohle des Teams.
Denn Ronaldo, inzwischen nur noch ein Mittelstürmer der alten Schule, ist in seiner aktuellen Rolle und Form nichts anderes als ein Hemmschuh. "CR7" spielt mit dem Selbstverständnis, jede Mannschaft dieser Welt besser zu machen. Bei der EURO ist derzeit aber das genaue Gegenteil der Fall. Portugals hart umkämpfter und hochdramatischer 3:0-Erfolg im Elfmeterschießen machte das am Montag gleich mehrfach deutlich.
Ronaldo spielt schlecht und weint
Ronaldos bemerkenswerteste Szenen in der regulären Spielzeit im Schnelldurchlauf: Ronaldo verstolpert Großchance (8.), Ronaldo jongliert den Ball (9.), Ronaldo verliert einen fairen Zweikampf und gestikuliert wild in Richtung Schiedsrichter (10.), Ronaldo verpasst eine Flanke (13.), Ronaldo wird für einen gewonnen Defensiv-Zweikampf gefeiert (14.), Ronaldo fordert Elfmeter (15.), ein Hackentrick von Ronaldo klappt nicht (27.), Ronaldo verliert ein Kopfballduell (28.), Ronaldo schießt Freistoß über das Tor (34.), Ronaldo krümmt sich ohne Grund am Boden (36.), Ronaldo haut einen Freistoß aus unmöglichem Winkel weit vorbei (38.), Ronaldo geht in die Halbzeit.
Danach: Ronaldo legt sich mit Gegenspieler an (52.), Ronaldo vergibt Freistoß (54.), Ronaldo vergibt erneut Freistoß (71.), Ronaldo vergibt Großchance (89.), Ronaldo verschießt Elfmeter (105.), Ronaldo weint.
Ronaldo mit Horror-Statistik
"Das ist mir selten passiert, deshalb war ich wahnsinnig traurig", begründete Ronaldo nach Abpfiff seine Tränen. Doch es ist weder der verschossene Elfmeter noch der in dieser Situation unangebrachte Gefühlsausbruch, der den Abend von Ronaldo am besten zusammenfasst. Diesen Job übernehmen in diesem Fall tatsächlich die harten Fakten.
Denn: Ronaldo, früher mal Ankurbler und Herz der portugiesischen Offensive, war gegen Slowenien in 120 Minuten genau 36 Mal am Ball und damit so wenig wie sonst kein anderer Feldspieler seines Teams. Ja, könnte man jetzt einwenden, er soll eben vorne die Tore machen. Problem dabei: Das macht er eben nicht. Ronaldo schoss gegen Slowenien ganze sieben Mal aufs gegnerische Tor und schraubte sein Torschuss-Konto bei diesem Turnier damit insgesamt auf 20.
Dass Ronaldo damit mit Abstand die meisten Torschüsse des gesamten Turniers abgab, er gleichzeitig aber immer noch bei null Treffern steht, zeigt dabei gleich zwei Dinge: Seine frühere Torgefahr hat der portugiesische Kapitän irgendwo zwischen Madrid und Saudi-Arabien verloren. Trotzdem ist er nach wie vor der Fixpunkt im portugiesischen Spiel. Seine Mitspieler suchen ihn, seine Mitspieler füttern ihn, seine Mitspieler überlassen ihm sämtliche Freistöße. Genau das ist aktuell aber Portugals Problem.
Mitspieler können sich nicht entfalten
Da das ganze Spiel auf Ronaldo zugeschnitten ist, kommen die großen Stärken seiner Nebenleute nur sehr, sehr selten zur Aufführung. Rafael Leão ist mit seinem Tempo und seiner Athletik eine Naturgewalt, Bernardo Silva und Bruno Fernandes können Spiele dank ihrer Raffinesse mit nur einer Aktion entscheiden. Allein: Sie zeigen es nicht oder nur viel zu selten. Wenn der Chef im Büro eine Hand auf die Schulter legt und von hinten mit auf den Bildschirm starrt, arbeitet es sich nicht gut. Genauso müssen sich Ronaldos Mitspieler fühlen.
Dass Trainer Roberto Martínez zudem hochtalentierte Akteure wie Joao Felix, Diogo Jota oder Gonçalo Ramos selten oder gar nicht bringt, versteht in Portugal nicht jeder. Martínez‘ Vorgänger Fernando Santos hatte sich bei der WM 2022 in Katar getraut, Ronaldo im Achtelfinale auf die Bank zu setzen und Stürmer Ramos das Vertrauen geschenkt. Dieser bedankte sich beim 6:1 gegen die Schweiz mit einem Dreierpack. Vier Tage später verlor Portugal gegen Marokko und Santos daraufhin seinen Job. Ronaldo als Reservist gab es seitdem nicht mehr.
"Er ist ein Vorbild für uns. Ich danke ihm, dass er so ist, wie er ist", lobhudelte passend dazu ein glückseliger Martínez ganz am Ende des Abends in den Frankfurter Katakomben. "Wir sind sehr stolz auf unseren Kapitän." Auch der portugiesische Trainer scheint sich von Ronaldos goldener Vergangenheit etwas blenden zu lassen. Für den kommenden Gegner Frankreich sind das sehr gute Nachrichten.