Skisprung-Weltcup in Willingen Hoffnungsträgerin Reisch tritt aus dem Schatten ihres Teams
Die deutschen Skispringerinnen enttäuschen beim Heim-Weltcup in Willingen. Agnes Reisch setzt aber ein Zeichen gegen den Trend und könnte aus dem Schatten von Katharina Schmid und Selina Freitag heraustreten.
Für andere wäre das eine gute Gelegenheit gewesen, um Todesangst zu entwickeln. Agnes Reisch fand es "extrem cool", da oben zu stehen, auf der größten Großschanze der Welt. Die Aussicht konnte sie beim Weltcupspringen am Samstag lange genießen. Auf den Balken rutschen, warten und wieder zurück. Fast zehn Minuten ging das so vor ihrem ersten Versuch.
Dabei hatte es in Willingen eigentlich Katalogwetter. Angezuckerte Tannen und kräftiger Sonnenschein bildeten die Kulisse zur großen Weltcup-Party im Nordhessischen, doch oben war es turbulent. Die Winde trugen auch die Schanze rauf, was im Tal los war. "Ich habe gesehen, wie der ganze Kessel unten bebt und die Zuschauer uns anfeuern", sagte Reisch.
Es war für die 25-Jährige der erste Sprung überhaupt in einem Wettbewerb auf der Mühlenkopfschanze. Sie brachte ihn mit 142 Metern ins Ziel und die Stimmung unter den Zuschauern, die sich um den Auslauf drängelten, ein erstes Mal an den Anschlag. "Das war der weiteste Sprung, den ich je gesprungen bin. Und das im Wettkampf", befand Reisch. Testurteil: "Cool".
Sven Hannawald ließ sich zu einer etwas exaltierteren Analyse hinreißen: "Das ist Wahnsinn. Ich glaube, sie weiß gar nicht, was da gerade passiert ist", sagte der ARD-Experte.
"Es reischt für die Führung", hatten ein paar besonders zuversichtliche Fans im Nordhessischen bereits vorab auf ein Pappschild prognostiziert. Am Samstag blieben für Reisch unterm Strich immerhin Platz fünf als beste Deutsche und die Erkenntnis, dass die Spitze nicht weit weg ist.
Nachhaltig anfeuern konnte die Performance der DSV-Springerinnen die Stimmung bei der rauschenden Willinger Wintersport-Party aber nicht. Katharina Schmid lief als Elfte ein und muss nach ihrem imposanten Saisonstart in der Gesamtwertung auf die Führende Nika Prevc allmählich abreißen lassen. Selina Freitag als Achte und Juliane Seyfarth auf Position 15 komplettierten einen enttäuschenden Auftritt.
Der bestätigte gleich zwei Trends: Während Schmid bei der Suche nach der verlorenen Form auch noch das Selbstverständnis abhandengekommen ist, pirscht sich Reisch im Verfolgerfeld an die Top Ten heran.
Dafür musste sie allerdings lange Anlauf nehmen. Im Mai 2021 riss sich die Allgäuerin im Training das rechte Kreuzband und fiel fast ein Jahr lang aus. Dass Reisch in der wohl besten Verfassung überhaupt ist, deutete die Zollbeamtin bereits bei der Two Nights Tour mit einem starken vierten Platz in Oberstdorf an. Erst in der Vorwoche gelang ihr gemeinsam mit Selina Freitag im Super-Team-Wettbewerb im japanischen Zao der erste Weltcup-Sieg im Team.
Der Spirit im DSV-Lager scheint trotz der jüngsten Schwankungen intakt. Schmid beklatschte Reischs Topversuch in Willingen so enthusiastisch, als hätte sie die Marke selbst in den Schnee gestanzt. Gemeinsam mit Freitag wartete sie später Reischs zweiten Sprung ab, um sie im Auslauf zu herzen.
"Wir trainieren den ganzen Sommer zusammen. Sie wissen, wie hart es ist, die ganze Zeit zu trainieren und freuen mich sehr für mich, dass es bei mir jetzt so gut läuft", erklärte Reisch. So soll es weitergehen. Nächster Halt des Skisprung-Zirkus: Lake Placid.
Während ihre Teamkolleginnen auf den Turnaround hoffen, will Reisch nur den Erfolgskurs halten. Ihr Plan klingt denkbar schlüssig: „einfach skispringen.“ Wichtig sei es, jetzt nicht zu "verkopfen". Bloß nichts verändern! "Wenn ich das mache, dann kommen auch gute Ergebnisse und vielleicht kommt auch mal ein Podest dabei raus." Mit einer Performance wie in Willingen scheint das nur eine Frage der Zeit zu sein.