Jahresrückblick 2022 Kamila Walijewa - Drama um Jahrhunderttalent
Eiskunstläuferin Kamila Walijewa reiste als Russlands Superstar zu den Olympischen Spielen nach Peking. Für die damals 15-Jährige endete der Traum von einer Medaille allerdings auf tragische Weise. Der Sportschau-Jahresrückblick.
Als eine Zwölfjährige das Eis betritt und die ersten kraftvollen aber dennoch grazilen Schritte macht, wird es still beim Training der Eisgala in Ingolstadt. Es ist 2018, Kamila Walijewa ist auf dem Eis.
Viele denken in diesem Moment, auch ich: Schon wieder so ein russisches Kind mit viel Talent, das schon bald untergehen wird in der schier unerschöpflichen Nachwuchsmasse dieser Eiskunstlauf-Großmacht.
Kamila Walijewa - ein Juwel auf dem Eis
In meiner Heimatstadt Ingolstadt hat die "Eisgala" eine über 30-jährige Geschichte, und die begeisterten Zuschauer haben schon die besten Eiskunstläufer der Welt gesehen. Auch diesmal haben wir den gewohnten Anruf eines Eiskunstlauf-Agenten aus Russland bekommen.
Ich erinnere mich noch sehr genau an seine Worte: "Danny, ich habe ein außerordentliches Talent für eure Show. Vertraue mir. Sowas hast du noch nie gesehen." Diese Worte hatte ich schon oft gehört, aber im Verlauf der Showtournee, in Ingolstadt und später in Chemnitz, Regensburg und Oberstdorf, wurde mir bewusst, welch ein Juwel hier auf dem Eis steht.
Walijewa fasziniert mit Ausdruck und Eleganz
Bei diesen vier Shows faszinierte Kamila Walijewa das Publikum mit einer Reife, Ausdrucksstärke und Eleganz, wie man es bei einer so jungen Sportlerin nie erwarten würde. Ihre Programme waren gespickt mit Dreifachsprüngen, und das unter extrem erschwerten Bedingungen im grellen Scheinwerferlicht und verkleinerter Eisfläche. Drei Shows, kein einziger Fehler oder Wackler, und dann stürzte sie bei der letzten Show in Oberstdorf beim dreifachen Lutz.
Nach Kamilas Performance wollte ich als Moderator auf dem Eis stehend den nächsten Läufer ankündigen, aber Kamila wollte nicht vom Eis. Sie signalisierte mir, dass sie noch einmal laufen möchte, um ihren Fehler zu korrigieren, und davon war sie nicht abzubringen. Unter tosendem Applaus machte sie dann einen perfekten dreifachen Lutz.
Russlands Jahrhunderttalent
Vier Jahre später. Peking, Olympische Spiele 2022. Ich sitze in meiner Reporterkabine in Mainz und kommentiere den Teamwettbewerb der Eiskunstläufer. Da ist sie wieder: Kamila Walijewa. Mittlerweile kennt sie jeder in der Eiskunstlaufszene.
Walijewa bei den Winterspielen in Peking
In Russland ist sie schon ein Star, und jetzt wird sie die Welt sehen. Sie hat einen Punkterekord nach dem anderen gejagt. Mit 15 bereits Grand-Prix-Siegerin, russische Meisterin und Europameisterin. Das russische Propagandagesicht der Winterspiele. Mittlerweile aus höchsten Staatskreisen gefördert. Putins Sprecher Peskow ist mit einer ehemaligen Eiskunstlaufweltmeisterin verheiratet. Man hilft sich gegenseitig.
Kamila verzaubert ein Millionenpublikum. Sie gewinnt Kurzprogramm und Kür und sichert dem "Russian Olympic Committee" im Alleingang Team-Gold vor den USA und China. Märchen, Teil Eins, dachte ich mir damals.
Verbotene Substanzen zum Frühstück
Schon am frühen Morgen des Folgetags kommen die ersten Gerüchte auf, und schnell fällt auch der Name - Kamila Walijewa. Ich bin wirklich schockiert und will es nicht glauben. Dieses junge Mädchen mit ihrer alleinerziehenden Mutter soll gedopt haben?
Die Fakten liegen schnell auf dem Tisch. Bei einer Dopingprobe am 25. Dezember wurden verschiedene Mittel in Kamilas Blut gefunden, darunter auch das verbotene Herzmittel Trimetazidin.
Ich telefoniere mit einem Freund aus Russland, der im russischen Eiskunstlauf extrem gut vernetzt ist. Er berichtet mir von Trainingscamps der vergangenen Jahre, bei denen zum Frühstück "Vitaminpillen" verteilt wurden. "Die jungen Sportler nehmen das, ohne zu fragen", berichtet mir mein Eislaufkumpel.
Harter Konkurrenzkampf in Russland
Ich bin fassungslos, aber bis heute auch überzeugt, dass Kamila Walijewa ohne ihr Wissen diese Mittel bekommen hat. Ihre Trainerin Eteri Tudberize ist für ihre harte Hand bekannt. Es herrscht ein großer Konkurrenzkampf unter den Toptrainern in Russland, die Lager sind sich spinnefeind.
Unsere ARD-Expertin Katarina Witt und ich sind uns während der Olympischen Spiele einig, dass Kinder bei Olympischen Spielen nichts zu suchen haben. Mit 15 ist es zwar offiziell erlaubt, an den Spielen teilzunehmen, aus meiner Sicht aber viel zu früh für die psychische Entwicklung einer so jungen Sportlerin.
Vor allem ist der Körper der jungen Eiskunstläuferinnen noch nicht voll entwickelt, und nur dadurch schaffen sie es, die irrsinnig schnellen Rotationen bei den Vierfachsprüngen zu bewältigen. Die Forderung von Katarina und mir war daher, das Mindestalter auf 18 Jahre zu erhöhen. Bei all den Hunderten Talenten die es in Russland gibt, war die Empörung über diesen Vorschlag natürlich groß.
Eine 15-Jährige - zerbrochen unter dem Druck
Nach einem weltweiten medialen Spießrutenlauf durfte Kamila am 17. Februar 2022 am Kür-Finale teilnehmen. Sie zerbrach am Druck dieser unausstehlichen Situation, machte viele Fehler und stürzte, und das schlimmste an dieser Geschichte war, dass ihre Trainerin Eteri Tudberidze nicht einmal den Anstand hatte, sie am Ende ihrer Kür tröstend in die Arme zu nehmen, denn genau das hätte sie in diesem Augenblick wirklich gebraucht. Das was alle Kinder wollen, wenn es ihnen nicht gut geht: eine schützende Hand.
Walijewa beim Kür-Finale
Ich habe es schon vor ziemlich genau zehn Monaten in meinem Kommentar gesagt, und auch jetzt kommen mir diese Worte sofort in den Kopf: "Wenn ich ihr Vater wäre, hätte ich sie schon längst nach Hause geholt."
Doping ist immer der falsche Weg, aber in diesem Fall muss aus meiner Sicht geklärt werden, wer ihr diese leistungssteigernden Medikamente verabreicht hat. Kein Mensch glaubt an das Märchen des Opas, aus dessen Glas Kamila getrunken haben soll.
Altersgrenze umgehend angehoben
Was die Altersgrenze angeht, wurde noch nie in der Geschichte des Eiskunstlaufsports eine Regeländerung so schnell umgesetzt wie diese. Beim Kongress des internationalen Verbandes im Sommer fand sich eine breite Mehrheit für die Anhebung des Mindestalters auf 17 Jahre, um bei Olympischen Spielen teilzunehmen. 18 Jahre wäre vernünftiger gewesen, aber es war ein enorm wichtiger Schritt zum Schutz dieser jungen Menschen.
Seit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist der Dopingfall Walijewa in Russland absichtlich verzögert und auf Eis gelegt worden. Nun ist Bewegung in die Affäre gekommen: Auf Antrag der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) hat der Internationale Sportgerichtshof (CAS) den Fall übernommen und der russischen Anti-Doping-Agentur die Entscheidung darüber entzogen.
Die WADA ist von einem Doping-Verstoß überzeugt und beantragte beim CAS eine vierjährige Sperre der mittlerweile 16-Jährigen. Außerdem sollen ihr alle gewonnenen Medaillen, Punkte und Preise ab dem 25. Dezember 2021 aberkannt werden.
Für Kamila Walijewa käme das einem Karriereende gleich, vom psychischen Schaden gar nicht zu sprechen. Das schlimmste aber ist: Die wahren Täter stehen noch immer auf den Eisbahnen Russlands und haben schon das nächste "Jahrhunderttalent" im Visier.