Biathlon Ingrid Landmark Tandrevold - und das Problem am Schießstand
Ingrid Landmark Tandrevold führt das Rennen um den Gesamtweltcup nach wie vor an, doch die zuletzt enttäuschenden Ergebnisse bei der WM haben bei der norwegischen Biathletin Spuren hinterlassen.
Eine Silber- und eine Bronzemedaille bei Weltmeisterschaften sind an sich keine schlechte Ausbeute. Im Falle von Ingrid Landmark Tandrevold war die WM in Nove Mesto allerdings ein herber Rückschlag. Obwohl sie als Führende im Gesamtweltcup als eine der großen Favoritinnen angereist war, enttäuschte sie in den Einzelrennen.
Im Sprint, in der Verfolgung und im Einzel standen am Ende nur die Ränge 25, 34 und 27 zu Buche. Auch der zehnte Platz zum Abschluss im Massenstart konnte nicht über die Formkrise der 27-Jährigen hinwegtäuschen. Selbst nach Bronze mit der Single-Mixed-Staffel floßen Tränen. "Ich erkenne mich selbst nicht wieder", sagte Tandrevold im Anschluss aufgelöst dem norwegischen Fernsehsender "NRK".
Tandrevold startet stark in die Saison
Dabei hatte die Saison vielversprechend begonnen. Nach den Rücktritten von Marte Olsbu Röiseland und Tiril Eckhoff sollte Tandrevold die entstandende Lücke bei den norwegischen Biathletinnen als neue Nummer eins schließen. Und sie schien dem Druck gewachsen. In den ersten neun Saisonrennen schaffte sie es in Einzel- und Staffelrennen stets unter die Top Ten. Dreimal sprang der Sieg, sechsmal das Podest heraus.
Spätestens in Ruhpolding, als sie den Sprint gewann und anschließend Zweite in der Verfolgung wurde, hatte sich Tandrevold engültig in Stellung auf die Goldmedaillen in Nove Mesto gebracht. Dort allerdings schien das Gelbe Trikot der Gesamtweltcup-Führenden wie eine Zentnerlast auf ihren Schultern zu wirken.
Angst vor dem Schießstand
Vor allem ihre Leistung am Schießstand warf Fragen auf. Während im liegenden Anschlag die Scheiben fielen, lief es im Stehen wie verhext. Allein in der Verfolgung musste sie sechs Strafrunden laufen. In den drei Einzelrennen verfehlte sie insgesamt fast die Hälfte aller Scheiben im Stehendanschlag - eine katastrophale Bilanz.
Wie sehr ihr die Psyche mitspielte, erklärte Tandrevold nach der Single-Mixed-Staffel, nachdem sie den möglichen Sieg mit einem erneut völlig verkorksten Stehendschießen noch aus der Hand gegeben hatte. Sie habe schlicht Angst vor dem Schießstand gehabt und einen "kleinen Nervenzusammenbruch" erlitten.
Schlechte Werte im Stehendanschlag
Wie durchwachsen die Leistungen der 19-fachen Weltcup-Siegerin am Schießstand derzeit sind, zeigt ein Blick auf die nackten Zahlen. Mit 96 Prozent erfolgreich abgegebener Schüsse im Liegendanschlag gehört Tandrevold zur absoluten Weltspitze. Stehend liegt der Wert dagegen gerade einmal bei 73 Prozent. Sprich jeder vierte Schuss verfehlt im Schnitt sein Ziel. Das kann Tandrevold selbst mit ihrer starken Laufform nicht kompensieren.
Zum Vergleich: Die beiden Französinnen Justine Braisaz-Bouchet und Julia Simon kommen auf eine 83-prozentige Trefferquote im Stehen. Lisa Vittozzi liegt gar bei einem Wert von 92 Prozent. Jene drei Athletinnen also, die Tandrevold im Rennen um den Gesamtweltcup am dichtesten im Nacken sitzen. Schon bei den anstehenden Wettkämpfen in Oslo könnte das Gelbe Trikot ihre Besitzerin wechseln.
Tandrevold stellt das Gewehr in die Ecke
Damit das ausgerechnet bei ihrem Heimweltcup nicht passiert, hat Tandrevold nach der WM Konsequenzen gezogen. Allerdings nicht in Form von intensiviertem Training am Schießstand. Im Gegenteil. Das Gewehr und auch die Skier wurde für eine Weile in die Ecke gestellt. Abschalten, auf andere Gedanken kommen, lautet die Devise.
"Ich will ein etwas einfacheres Leben mit denen, die ich liebe, führen", sagte Tandrevold im "NRK". "Das ist so ein bisschen wie vor einem Examen. Manchmal ist es okay, mit dem Lesen aufzuhören und einfach ins Bett zu gehen. Wenn man es ein wenig verschwinden lässt, kommen die wichtigsten Dinge zurück."
Tandrevold ist mit ihrer Entscheidung, sich eine vorübergehende Auszeit vom Biathlon zu nehmen, nicht allein. Die gesamte norwegische Mannschaft hat eine Pause vor den Wettkämpfen am Holmenkollen verordnet bekommen. Die Athletinnen sollen auf andere Gedanken kommen, "nicht ans Schießen denken und alles andere genießen", erklärte Trainer Sverre Huber Kaas. Auf der einen Seite sicherlich ein Wagnis, auf der anderen Seite bietet es insbesondere für Tandrevold die Chance, sich geistig und auch körperlich von dem WM-Debakel zu erholen.
Braisaz-Bouchet und Simon mit Rückenwind
Trotz ihrer Führung im Gesamtweltcup gehört die Favoritenrolle bei den Rennen in Oslo ihren Verfolgerinnen. Vor allem Braisaz-Bouchet und Simon reisen mit jeder Menge Rückenwind nach den französischen Festspielen in Nove Mesto an.
Für Tandrevold spricht dagegen der Heimvorteil, der auf der anderen Seite aber auch zur Last in einer ohnehin schon schwierigen Situation werden könnte. Die Aussicht auf den erstmaligen Gewinn der großen Kristallkugel dürfte aber Motivation genug sein, die Angst vor dem Schießstand wieder in positive Anspannung umwandeln zu können.