Wimbledon Tränen auf dem Center Court - Lulu Sun erobert Wimbledon
Als Qualifikantin gestartet, jetzt im Viertelfinale. Der Lauf der Neuseeländerin Lulu Sun geht weiter. Nach dem Sieg gegen Emma Raducanu greift sie nun sogar nach dem Titel.
Lulu Sun sank zu Boden. Besser noch: Sie kniete kurz, ging in sich, stand wieder auf und lief ans Netz. Dort wo Emma Raducanu wartete, britischer Superstar, der vor drei Jahren bei den US Open das historische Kunststück gelungen war, als Qualifikantin ein Grand-Slam-Turnier zu gewinnen.
Denn was Lulu Sun dieser Tage auf dem Rasen von Wimbledon anstellt, das ist fast unerhört. Sun, 23 Jahre alt, bisher selbst Tennis-Insidern kaum ein Begriff - bei der zweiten Grand-Slam-Hauptfeldteilnahme ihres Lebens - steht nach ihrem Sieg gegen Raducanu im Viertelfinale.
Nachdem am Abend die Titelfavoritin Coco Gauff die Segel streichen musste, scheint auf einmal alles möglich. Auch für Sun, die in Neuseeland geborene, in der Schweiz aufgewachsene Tochter einer Chinesin und eines Kroaten. Denn sie ist die Tennis-Kosmopolitin mit dem perfekten Spiel für den Rasen.
Furchtlose Angriffe
Nachdem Sun auf dem Centre Court ein strategisches Meisterstück geliefert hatte, cool und konzentriert geblieben war, brachen sich die Emotionen ihre Bahnen. Suns Familie auf der Tribüne konnte ebenso wenig die Tränen zurückhalten, wie die Protagonistin selbst, die gerade eine der größten Geschichten dieses Turniers geschrieben hatte.
Mit einer Leistung, die man so gar nicht mit einer schüchternen 23-Jährigen in Verbindung bringen würde. Furchtloses Angriffstennis, eine wuchtige Vorhand, der Slice, der auf dem Rasen in Wimbledon besonders gefährlich für die Gegnerinnen ist, weil der Ball nach dem Auftreffen kaum noch an Höhe gewinnt.
Meisterstück gegen Raducanu
Sun hatte bislang eine gute Saison gespielt. In der Weltrangliste war sie in den ersten sechs Monaten um etwa 100 Plätze geklettert, hoch auf Platz 123. Aber zwischen den Plätzen 220 und 120 geht es schnell rauf und runter. In der Vorbereitung auf Rasen konnte Sun nur ein Match gewinnen.
Dann kamen die Qualifikation für Wimbledon und der Einzug ins Hauptfeld. Das Tableau schien es nicht gut mit Sun zu meinen, schließlich wurde sie der Weltranglisten-Achten Qinwen Zheng zugelost. Doch Sun entledigte sich schon dieser Aufgabe mit enormer Ruhe – und dennoch gelang ihr das wahre Meisterstück gegen Raducanu am Sonntag.
Publikum "nicht so schlimm"
Denn der Centre Court kann ein einsamer Ort für Spielerinnen sein, die gegen eine Britin antreten. Das sonst so distinguierte Publikum lässt den Platz zu einem extrem lauten Kessel werden, verstärkt noch durch das geschlossene Dach, das den Schall zurückprallen lässt.
Doch die 23-jährige Sun focht all dies nicht an, wie sie auf der Pressekonferenz verriet: "Ich habe schon erwartet, dass es laut sein würde. Und, ehrlich: Das britische Publikum ist nicht so schlimm, wenn man die Zuschauer bei den French Open oder den US Open erlebt hat.“
Sun ist es sowieso gewohnt, ihren eigenen Weg zu gehen. Ihre Familie zog, als sie fünf Jahre alt war, in die Schweiz. Später studierte und spielte sie an der University of Texas und hat ihren Lebensmittelpunkte derzeit in Florida und der Slowakei, wo ihr Trainer wohnt. Bis vor wenigen Monaten spielte Sun noch für die Schweiz.
Ihren Sinneswandel, ab sofort für Neuseeland zu starten, führte die 23-Jährige auf das WTA-Turnier in Auckland in diesem Januar zurück. "Die überwältigende Unterstützung und das Gefühl, von einem ganzen Land umarmt zu werden, stärkten meine tiefe Verbundenheit und mein Gefühl, 'zu Hause' zu sein'", ließ sie ihre Follower auf Instagram wissen. Sie freue sich darauf, Neuseeland in Zukunft im Billie-Jean-King-Cup zu vertreten. Auch bei den Olympischen Spielen in diesem Sommer wird Sun in der Doppelkonkurrenz antreten.
Mit 14 Jahren erste Weltranglistenpunkte
Adelung bekam Sun nach ihrem Sieg von der ehemaligen Wimbledon-Siegerin und Weltranglistenersten Ash Barty, die für die BBC in diesem Jahr als Expertin arbeitet und wie kaum jemand anders versteht, was auf dem Rasen zum Erfolg führt: "52 Winner zu spielen, unter diesen Umständen, auf dem Centre Court, gegen die Lokalmatadorin, das ist einfach unglaublich.“ Dann fügte Barty mit beeindrucktem Nicken an: "Sie weiß wirklich, wie man auf Rasen spielt." Und seit dieser Woche wissen das sehr viele Menschen.
Obwohl es mit dem Durchbruch vergleichsweise lange gedauert hat, konnte Sun schon mit 14 Jahren ihre ersten Weltranglistenpunkte sammeln, spielte dann auch bei den Grand Slams in den Juniorinnen-Wettbewerben. Sie wollte auf die Tour, doch für die Mutter stand das Thema Bildung im Vordergrund und so startete Sun ihr Studium der "International relations and global studies" an der University of Texas.
Studium beendet
Als Covid kam und alles stillstand, führte Sun ihr Studium zu Ende. Seit 2022 versucht sie es nun ernsthaft auf der WTA-Tour. Dass sie die Fähigkeiten hat, um auch die großen Spielerinnen zu schlagen, wusste Sun: "Das Level von denen, die in der Qualifikation spielen, ist nicht grundlegend schlechter als das der Top100. Trotzdem habe ich mir nicht gesagt, ich werde im Viertelfinale in Wimbledon stehen. Vielmehr bin ich einfach Match für Match gegangen." Diese oft zur Floskel geratene Weisheit war für Sun der Schlüssel zum Sieg.
"Unglaubliche Erfahrung"
Als Sun im Interview nach dem Match auf dem Platz befragt wurde, wie sie den Tag erlebt habe, meinte sie über ihren Gang auf den Centre Court: "Wow, ich hab das noch nie gesehen. Ich habe mich nur umgeschaut und alles aufgesaugt. Ich bin so glücklich, hier auf diesem Platz zu spielen und es ist eine unglaubliche Erfahrung."
Nicht ausgeschlossen, dass die aus dem Nichts Gekommene diese Erfahrung bis zum Finale am Samstag noch ein- oder zweimal machen kann.