Vier Stürmer, aber kaum Chancen Belgien scheitert auch an Tedescos Taktik
Belgiens "Goldene Generation" bleibt weiter titellos. Der langjährige Weltranglisten-Erste um Superstar Kevin De Bruyne verlässt die EM im Achtelfinale nach einer 0:1-Niederlage gegen Frankreich. Ausgerechnet der 37-jährige Routinier Jan Vertonghen war am Ende der große Unglücksrabe, er hatte in der 85. Minute einen Schuss von Randal Kolo Muani ins eigene Tor abgefälscht. Tatsächlich scheiterte Belgien aber vor allem an der Taktik von Domenico Tedesco.
In der 64. Minute wollte Tedesco retten, was zu diesem Zeitpunkt auch durchaus noch zu retten war: Er brachte den defensiven Mittelfeldspieler Orel Mangala für Stürmer Loïs Openda und beorderte Kevin De Bruyne von der Sechser- auf die Zehner-Position. Es stand noch 0:0 in Düsseldorf, doch auch nach der Umstellung seiner Umstellung bekamen die Belgier nicht mehr die Kurve. So bleibt am Ende offen, ob der deutsche Coach seine Spielidee mit - bei Ballbesitz - vier (!) Angreifern entweder seinen Schützlingen schlecht erklärt hatte. Oder ob die Mannschaft einfach nicht darauf eingehen konnte oder wollte.
Vielleicht hatte Tedesco noch die Reaktionen aus der Heimat im Kopf gehabt, als er und sein Team nach dem unansehnlichen 0:0 gegen die Ukraine beispielsweise von der Zeitung "Het laatse Nieuws" als ein "Haufen von Angsthasen" beschimpft worden waren. Die Fans hatten ihre Truppe trotz des Erreichens der K.o.-Runde mit einem gellenden Pfeifkonzert in die Kabine verabschiedet.
Belgien - vier Stürmer, aber eine Kluft wie ein Ozean
Mutlosigkeit musste sich Tedesco diesmal ganz sicher nicht vorwerfen lassen. Er änderte sein Spielsystem trotz des schwergewichtigen Gegners auf eine Formation mit der Doppelspitze Romelu Lukaku und Openda im Zentrum, dazu griffen Jérémy Doku und Yannick Carrasco auf den Flügeln an. Dahinter sollte De Bruyne in der Mittelfeld-Zentrale die Fäden ziehen, doch die Kluft zwischen dem Offensiv-Quartett und dem Rest der Belgier war breit wie ein Ozean.
De Bruyne hatte das früh gemerkt, auch einige seiner Mitspieler. In der 10. Minute beispielsweise brach der Kapitän einen Angriffsversuch ab und winkte frustriert in Richtung Openda, als wollte er sagen: Bietet euch doch mal an da vorne, kommt doch mal entgegen! Selbst wenn er das gerufen hätte - sie hätten ihn vorne nicht gehört. Denn sie standen zu weit weg.
Frust auch bei Onana und Faes über die Vorderleute
Zehn Minuten später gab es eine ähnliche Szene: Amadou Onana gestikulierte in Richtung von Lukaku, doch der gab sich ahnungslos, breitete beide Arme aus. Auch Wout Faes, der Innenverteidiger, beklagte sich mehrfach über fehlende Anspielmöglichkeiten beim Aufbau.
Das Zahlenwerk war deshalb schon zur Pause vernichtend für die "Roten Teufel". Lukaku lag bei sieben Ballkontakten, Openda bei neun, da hatte selbst der Torhüter Koen Casteels mit 23 mehr als die beiden zusammen. Überhaupt Lukaku: null Torschüsse bis zur 71. Minute, er wirkte unglaublich schwerfällig, frustriert, so als würden die drei aberkannten Treffer aus der Gruppenphase noch nachwirken.
So wirkte es dann am Ende fast folgerichtig, dass ihm der Ballverlust vor dem entscheidenden Tor unterlief - und er auch noch einfach vorne stehen blieb statt nachzusetzen. Nach 70 Minuten hieß es nach Torschüssen 2:15 aus Belgiens Sicht, beim Abpfiff waren es 6:20. Fast schon peinlich: Die "X-Goals", also die zu erwartenden Treffer, des gesamten belgischen Teams wurden von den Statistikern mit 0,22 beziffert.
Belgiens Romelu Lukaku während des Spiels gegen Frankreich
Tedesco erklärt der Sportschau seine Idee
Die Sportschau fragte Tedesco später nach seinem gescheiterten System und der fehlenden Bindung zwischen den Mannschaftsteilen. Er erklärte: "Meine Idee war es, auf den Flügeln zu doppeln und immer Dreiecke zu bilden. Defensiv hat das gut funktioniert, wir haben Frankreich über außen meistens kontrolliert. Offensiv war der Plan, ihre Probleme bei Bällen hinter die Abwehrkette zu nutzen. Das haben wir aber definitiv zu wenig gemacht, obwohl nach meinem Gefühl die Räume durchaus da waren."
De Bruyne verriet nach der Partie in der Interview-Zone, wie Tedesco sein Team vorher involviert hatte: "Der Coach hat zwei Tage vor dem Match Lukaku und Vertonghen zu sich geholt und mit ihnen den Plan vorbesprochen. Klar habe ich weiter hinten als sonst gespielt, aber wir haben das so angenommen. Letztlich hatten wir einfach zu wenig Gefahr nach vorne."
Deschamps: "Sind nicht in ihre Falle getappt"
Sehr interessant war auch, was anschließend die Franzosen zur Tedesco-Taktik sagten. Rechtsverteidiger Jules Koundé, der zum "Player of the Match" gekürt wurde, schüttelte ein wenig ratlos mit dem Kopf: "Wir waren überrascht, als wir die Aufstellung gelesen haben. Aber ganz ehrlich: Ich hätte nie gedacht, dass man mit diesen vier Spielern vorne dann derart defensiv auftreten kann. Wenn du bei uns Namen wie Mbappé, Thuram und Griezmann auf dem Zettel stehen hast, dann weißt du, dass da auch was nach vorne kommt."
Frankreichs Trainer Didier Deschamps ruft Anweisungen vom Spielfeldrand
Auch Didier Deschamps, der mit seinem defensiv aussehenden System mit drei Abräumern vor einer Viererkette letztlich mal wieder durchkam, klang ziemlich unterkühlt, als er den Tedesco-Plan eine Stunde nach Spielschluss auch nochmal verbal in die Tonne beförderte: "Wir wussten vorher, dass die belgische Mannschaft nicht die schnellste ist. Sie wollten uns mit Carrasco und Doku auf Außen eine Falle stellen - aber wir sind einfach nicht hineingetappt."
De Bruyne lässt seine Zukunft offen
Wie es mit dieser belgischen Mannschaft und ihrem Trainer nun weitergeht, ist offen. Tedesco war nach dem Aus komplett frustriert und wollte nicht nach vorn blicken, sondern erstmal "alles in Ruhe analysieren". Vertonghen wird seine Karriere in der Nationalelf wohl beenden, vielleicht auch Lukaku.
Und selbst De Bruyne ließ seine Zukunft offen. "Ich gehe jetzt in die Sommerpause, erhole mich von allem - und dann werde ich eine Entscheidung treffen", sagte er. Das mit der "Goldenen Generation" wollte er am Ende des Abends übrigens auch nicht mehr hören. "Was wollen Sie damit?", raunzte er einen belgischen Journalisten an. "Hier sind auch Frankreich, England, Spanien oder Deutschland am Start. Meinen Sie, dass das alles keine Goldenen Generationen sind?"