Vierschanzentournee Ryoyu Kobayashi - Formtief als Ruhe vor dem Sturm?
Zweieinhalb Wochen vor Beginn der Vierschanzentournee kristallisieren sich die ersten Favoriten auf den Goldenen Adler heraus. Der Name des Titelverteidigers fliegt bisher aber unter dem Radar: Ryoyu Kobayashi.
Es ist schon ein Weilchen her, seit Ryoyu Kobayashi das letzte Mal für Schlagzeilen gesorgt hat. Im April veröffentlichte sein Sponsor Red Bull ein Video, auf dem der Japaner auf einer provisorischen Flugschanze in Island angeblich 291 Meter weit flog - und damit den Weltrekord um fast 40 Meter pulverisierte.
Was vom PR-Stunt blieb, war letztlich aber nur eine Zahl, so wahnwitzig sie auch erscheinen mag. Weltrekordversuche werden schließlich nur in offiziellen Wettbewerben des Weltverbandes FIS anerkannt. Mit Blick auf die neue Saison versprach der Sprung dennoch Spannung. Nicht umsonst startete Kobayashi in diesem Winter einmal mehr als großer Favorit in den Weltcup.
Kobayashi noch nicht in Form
Die Schlagzeilen schreiben bisher allerdings andere. Aus deutscher Sicht allen voran Pius Paschke, dessen Chancen bei der Vierschanzentournee nach seinem traumhaften Auftakt alles andere als Träumereien sind. Daneben haben sich die Österreicher um Gesamtweltcup-Sieger Stefan Kraft, Daniel Tschofenig und Jan Hörl mit konstanten Leistungen in Stellung gebracht.
Um Kobayashi ist es dagegen still geworden. Der Olympiasieger von Peking fliegt bisher eher unterm Radar. Zwar war er bei den bisherigen sechs Weltcup-Wettbewerben immer im Finale vertreten, auf ein Topergebnis wartet der Skisprung-Star bisher aber vergebens. Platz 13 am vergangenen Sonntag in Wisla sollte seine bis dato beste Leistung in diesem Winter sein. Im Rennen um die große Kristallkugel hinkt der zweimalige Gesamtsieger bereits mit fast 400 Punkten hinter Paschke hinterher.
Ohne Verletzung durch die Vorbereitung
Offenkundige Ursachen für seinen stotternden Saisonstart gibt es nicht. Kobayashi ist verletzungsfrei durch die Vorbereitung gekommen, an seinem Flugsystem hat sich nichts geändert. Dennoch stimmt die Form nachdenklich. Zwei Weltcups in Titisee-Neustadt und Engelberg bleiben noch, um Selbstvertrauen und Top-Ergebnisse vor dem am 28. Dezember mit der Qualifikation in Oberstdorf beginnenden Saisonhighlight zu sammeln.
Allzu nervös dürfte Kobayashi deshalb vermutlich aber nicht werden. Trotz seiner erst 28 Jahre gehört er mit drei Tournee-Siegen bereits zu den besten Skispringern aller Zeiten. Den "Grand Slam" für den Sieg bei allen vier Einzelwettkämpfen bei der Tournee teilt er sich mit Sven Hannawald und Kamil Stoch.
Wie im vergangenen Winter?
Zudem kennt er sich mit Rückschlägen aus, schaffte es in seiner Karriere regelmäßig, zum Saisonhöhepunkt am Zenit zu springen. Auch im vergangenen Jahr war dies der Fall. Kobayashi war zwar ordentlich in die neue Saison gestartet, hatte bis Ende Dezember allerdings keinen Sieg vorzuweisen. Auch damals gehörte die Favoritenrolle anderen - vor allem Andreas Wellinger und Stefan Kraft. Beide starteten auch gut, Wellinger gar mit dem Sieg in Oberstdorf. Doch es fehlte die Konstanz. Stichwort: Innsbruck. Und im Windschatten der beiden schwang sich Kobayashi zu Höchstleistungen auf. Zwar war ihm kein Sieg vergönnt, doch bei allen vier Stationen landete der introvertierte Japaner auf Platz zwei. Stichwort: Konstanz.
Kein Tagessieg bei der Tournee 2023/24 - dennoch hieß der Gesamtsieger Ryoyu Kobayashi.
"Es gibt keinen anderen Weg, als einfach loszulegen"
Ein Wort, das aktuell vor allem Skisprung-Oldie Pius Paschke wie auf den Leib geschneidert ist. Nach drei Weltcup-Siegen in diesem Winter ruhen die deutschen Hoffnungen nicht umsonst auf dem 34-jährigen Spätzünder. Doch, und das weiß auch Paschke, ist die Tournee noch einmal aus anderem Holz geschnitzt. Ein anderer Druck, an dem schon einige vor ihm gescheitert sind. Kobayashi weiß genau mit diesem Druck umzugehen, ihn in den richtigen Momenten zu kanalisieren, damit er beflügeln kann. "Es gibt keinen anderen Weg, als einfach loszulegen. Selbst wenn ich mir Sorgen mache, habe ich keine andere Wahl", erklärte er einst sein simples Erfolgsrezept.
Daran hat sich seit seinen ersten Sprüngen in jungen Jahren wenig geändert. Kobayashi ruht in sich selbst, lässt sich "nicht zu sehr von den Ergebnissen leiten", auch wenn es mal nicht so wie gewünscht läuft. Seine Fähigkeit, sich flexibel an die jeweilige Situation anzupassen, hat ihn bereits in der Vergangenheit von Erfolg zu Erfolg geführt. Damit einher geht ein immenser Erfahrungsschatz: Kaum einer im aktuellen Weltcup-Zirkus beherrscht alle vier Tournee-Schanzen derart aus dem Effeff wie Kobayashi, der so vollendet fliegen kann wie kaum ein anderer.
Kobayashi könnte zu Weißflog aufschließen
Auch wenn ein vierter Erfolg bei der Tournee angesichts seiner momentanen Form überraschend wäre, ist die Vorstellung, wie Kobayashi den Goldenen Adler am 6. Januar 2025 in Bischofshofen in die Höhe reckt, alles andere als unrealistisch.
Er würde damit im Übrigen zu Jens Weißflog aufschließen, dem Kobayashis eingangs beschriebener inoffizieller Weltrekord-Flug bis an die 300-Meter-Marke natürlich nicht entgangen ist. "Nun hat er den Beweis geliefert, dass es möglich ist, in diese Dimension vorzudringen", meinte die deutsche Skisprung-Legende. Eines ist sicher: Es dürfte nicht das letzte Mal gewesen sein, dass Ryoyu Kobayashi für Schlagzeilen gesorgt hat.