Biathlon-WM in Nove Mesto Zwischen Horror-Show und Happy End - eine filmreife Bronzemedaille
Wie nah Freud und Leid im Biathlon beieinander liegen, zeigte die Frauen-Staffel von Nove Mesto eindrücklich. Dass das deutsche Quartett eine Medaille gewann, lag an starken Nerven und schwacher Konkurrenz. Dazu beeindruckte eine überraschende Heldin.
Wenn man als Sportreporter nach einem Biathlon-Rennen nicht genau weiß, wo man bei der Nachbetrachtung anfangen soll, dann kann das nur zwei Gründe haben: Entweder es war stinklangweilig oder aber es ist wahnsinnig viel Bemerkenswertes passiert. Die Frauen-Staffel bei der WM in Nove Mesto gehört klar in die zweite Kategorie - oder wie Protagonistin Sophia Schneider es formuliert: "Es ist alles ein bisschen wie im Film". Dieser Satz trifft es wie die Faust aufs Auge.
Voigt zuerst mit Frust- dann mit Freudentränen
Nehmen wir als Beispiel die Gefühlswelt der Vanessa Voigt. Als die Thüringerin an Schlussläuferin Sophia Schneider übergibt, liegt das DSV-Quartett auf dem fünften Platz - rund 51 Sekunden hinter der Spitze. Im Ziel ist die 26-jährige Voigt kaum zu beruhigen. Tränen der Frustration fließen, wer auch immer aus dem deutschen Team an ihr vorbeiläuft, wird in hitzige Diskussionen verwickelt. Voigt hadert mit dem Material - "das flutscht gar nicht", sollte sie später sagen. Voigt hadert zu diesem Zeitpunkt aber sicherlich auch mit sich selbst.
Wir spulen rund 15 Minuten vor. Sophia Schneider steht am Schießstand - es ist die letzte Serie dieser Staffel. Sie muss zweimal nachladen - wenn sie trifft, dann wird Deutschland Bronze gewinnen. Den Moment, als es so kommt, beschreibt Teamkameradin Voigt dann so: "Wir haben so laut geschrien, sogar die Zuschauer haben sich erschrocken. Und die anderen Mädels haben zu uns rübergeschaut und sich gefragt, was denn mit den Deutschen schon wieder los ist."
Wieder fließen Tränen bei Voigt und Team - diesmal der Freude. Alles innerhalb einer Viertelstunde. Wenn dieses Rennen ein Film ist, dann hat dieser gerade das Genre gewechselt: Von Horrorstreifen zu einem Drama mit Happy End.
Eigentlich war Schneider auf dem Weg nach Hause - eigentlich
Die Heldin dieser hollywoodreifen Gefühls-Achterbahnfahrt weiß vier Stunden zuvor noch nicht, dass sie in dem Film überhaupt eine Rolle spielen wird. Sophia Schneider zählt ursprünglich nicht zum Aufgebot der Staffel - den Leistungen in dieser Saison und auch bei dieser WM nach zu urteilen vollkommen zu Recht. Bei den Titelkämpfen wurde sie im Sprint 28. und in der Verfolgung sogar nur 38. Im Einzelwettbewerb kam sie nicht mehr zum Einsatz.
"Eigentlich sollte ich gerade im Bus sitzen", erzählt Schneider nach der Staffel. Im Bus nach Hause. Doch schon am Morgen dieses besonderen Tages in Nove Mesto deutet sich an, dass alles anders kommen könnte. "Ich bin aufgestanden wie immer und wollte dann eigentlich entspannt frühstücken", erzählt die Oberbayerin. "Aber dann habe ich schon gemerkt, dass die Franzi nicht hundertprozentig fit ist. Ich habe ich mich bereit gehalten und mit meiner Mama telefoniert und ihr erzählt, dass ich vielleicht laufen werde."
Die Athletinnen der deutschen Biathlon-Damen-Staffel mit Bronze-Medaille in Nove Mesto
Schneider hat nach verpatzten WM-Rennen viel geweint
Franziska Preuß, Deutschlands beste Biathletin, kämpft mit Halsschmerzen und muss letztendlich passen. Da die Regel besagt, dass nach der Deadline für die Einreichung der Staffel-Aufstellung nur noch Eins-zu-eins getauscht werden darf, ist Schneider plötzlich nicht nur im Aufgebot, sondern auch direkt Schlussläuferin.
Eine erste dramaturgische Wendung, die für die Nummer 27 im Gesamtweltcup zu einem eigentlich ziemlich ungünstigen Zeitpunkt kommt. "Nach Sprint und Verfolger war ich schon sehr enttäuscht - ich war einfach unzufrieden mit mir selbst und dass ich meine Leistung nicht abrufen kann", berichtet sie. "Am vergangenen Montag habe ich auch viel geweint. Aber dann habe ich beschlossen: Das ist der Sport, ich darf mich davon nicht runterziehen lassen."
Die Konkurrenz patzt - Schneider ist da
Dass rund vier Stunden später alles gut ist, Schneider nach ihrem Zieleinlauf die Hände vor dem Gesicht zusammenschlägt und - filmreif eben - auch bei ihr die Freudentränen kullern, hat mit dem Blick auf den Rennverlauf exakt zwei Gründe. Die Staffel-Vizeweltmeisterin von Oberhof 2023 beweist starke Neven am Schießstand - und dazu ist diese Bronzemedaille auch ein Abbild der schwächelnden Konkurrenz.
Die Deutschen machen ein ordentliches, aber vor allem in der Loipe bei weitem kein überragendes Rennen. "Es ist eine Medaille, die total verrückt ist, weil sie ein richtiger Kampf war", erzählt Vanessa Voigt. Als Sophia Schneider ins Rennen startet, ist Deutschlands direkte Konkurrenz um Bronze völlig überraschend Estland (eigentlich nochmal ein Film für sich) und Österreich. "Ich habe schon gesehen, die Österreicherinnen und die Estinnen, das sind jetzt keine Elvira Öberg oder Tandrevold. Die kann man schon schlagen", gibt Schneider Einblick in ihre Gedankenwelt.
Ein Drehbuch, das nicht schöner hätte sein können
Die vor dem Rennen höher gehandelten Norwegerinnen und Italienerinnen brechen am Schießstand dermaßen eklatant auseinander - bei den Skandinavierinnen werden es unter dem Strich fünf (!) Strafrunden - auch das ebnet Schneider letztendlich den Weg zur Bronzemedaille. Und nur die zählt nach dieser Staffel "Es hat sich super angefühlt. Es ist das erste Mal auf der Schlussposition", berichtet Schneider. "Es ist ein cooles Gefühl, die Medaille ins Ziel zu laufen."
Das Drehbuch für dieses Rennen hätte also aus deutscher Sicht kaum schöner geschrieben sein können. Nach einem unterdurchschnittlichen Rennen, inklusive zwischenzeitlicher Tränen der Enttäuschung, gewinnt der DSV dank der eigentlich aussortierten, für die erkrankte Top-Athletin überraschend ins Team gerutschten Heldin doch noch Bronze. And the WM-Oscar goes to …