Eisbaden im Selbstversuch Eisbaden im Selbstversuch - Euphorie nach Kälteschock
Eisbaden ist in den letzten Jahren zu einem echten Trend geworden. Viele Menschen versprechen sich hierdurch Stärkung von Geist und Körper. Doch ist das so? Und wie geht man verantwortungsvoll eisbaden? Ein Selbstversuch. Von Marc Schwitzky
Werde Sportjournalist, haben sie gesagt. Das ist ein erfüllender Job, haben sie gesagt. Und jetzt stehe ich hier. Unter meiner Dusche. Mit der Brause, aus der eiskaltes Wasser strömt, in der Hand. Mit der Handy-Uhr gestoppte 90 Sekunden, die sich wie Stunden anfühlen – und von außen sehr skurril aussehen müssen. Ich atme panisch und winde mich hin und her.
So sieht mein tägliches Training eine Woche lang aus. Ich bereite mich auf meinen Arbeitsauftrag am kommenden Samstag vor: Eisbaden. Im Weddinger Plötzensee. Eine Idee meines Redaktionsplaners. Begeistert war ich nicht, aber die Komfortzone zu verlassen, kann nicht verkehrt sein. Und so nehme ich den Arbeitsauftrag, etwas widerwillig, an – und gebe warmes Duschen vorerst auf. Na toll.
Eisbaden gilt als wachsender Trend
In meiner Recherche stelle ich schnell fest: Tatsächlich erlebt Eisbaden in den letzten Jahren einen regelrechten Höhenflug. Unzählige Artikel und Ratgeber zu dieser Extrem-Aktivität schmücken das Internet. Ganze YouTube-Kanäle beschäftigten sich ausschließlich mit Eisbaden, sie haben teilweise zehntausende Abonnenten.
Im Februar 2024 geben in einer YouGov-Umfrage rund acht Prozent der Befragten in Deutschland an, dass sie bereits Eisbaden waren. 17 Prozent waren es noch nicht, können es sich aber vorstellen. Gleich 71 Prozent schließen Eisbaden für sich aus – ich hätte mich eigentlich dazu gezählt.
Mehrere Eisbade-Möglichkeiten in Berlin
In den vergangenen Jahren haben sich auch in Berlin mehrere Organisationen gegründet, die Eisbaden in Gemeinschaft ermöglichen. Im Seebad Friedrichshagen gibt es pro Jahr einen festen Termin: Immer am dritten Sonntag im Januar trifft man sich dort zum Schwimmen. Das Strandbad Tegelsee in Reinickendorf bietet es in der Nebensaison jeden Sonntag um 13 Uhr an.
Die "Berliner Seehunde" sind derzeit fast 200 Menschen im Alter von 12 bis 90 Jahren, die sich dem Eisbaden verschrieben haben. Sie gibt es bereits seit 1980 als Abteilung "Winterschwimmen" in der SG Bergmann-Borsig, von Mitte September bis Ende April gehen sie an jedem Sonntag um 10 Uhr im Freibad Orankesee ins Wasser.
Ich entscheide mich geografisch bedingt für die "Ice Dippers", die geführtes Eisbaden an drei Orten Berlins anbieten: im Weißen See, Schlachtensee und Plötzensee. Bei jedem Treffen, immer samstags um 10 Uhr, werden Spenden für die Kältehilfe der Berliner Stadtmission gesammelt.
Zum 38. Winterschwimmen des Vereins Berliner Seehunde im Orankesee in Berlin-Lichtenberg trafen sich am 13.01.2024 Anhänger des Winterschwimmens aus mehreren Bundesländern. Der Eisfasching stand in diesem Jahr unter dem Motto Traumberufe. (Foto: IMAGO / Hohlfeld)
Stärkung von Geist und Immunsystem? Die sehr dünne Studienlage zum Eisbaden
"Eisbaden ist nicht nur für den Körper, sondern vor allem für den Geist eine Wohltat. Wenn Sie aus Ihrer Komfortzone heraustreten und regelmäßig in Kontakt mit der Natur bleiben, hat das starke Auswirkungen auf Ihre Psyche und Ihr allgemeines Wohlbefinden", schreiben die Ice Dippers auf ihrer Website.
Zwar gibt es laut einer Studie vage Hinweise darauf, dass Kältetherapien mentale Verbesserungen hervorbringen können – doch insgesamt ist die Studienlage zum Eisbaden überaus dünn. Auch dass das Immunsystem durch Eisbaden gestärkt wird, ist nicht erwiesen. Meist handelt es sich dabei um individuelle Erfahrungen, anekdotische Evidenz.
Dr. Simone Koch aus Berlin geht selbst seit 2016 Eisbaden und bot es unter medizinischer Aufsicht bis vor kurzem in ihrer ehemaligen Praxis an. Die Ärztin sagt: "Es braucht noch viel mehr Forschung zu dem Thema. Es gibt bislang nur wenige Studien mit auch nur geringen Fallzahlen – meist mit jungen Menschen und vor allem Männern als Probanden. Daher sind jene Studien meist nicht sonderlich repräsentativ."
Viel eher handelt es sich bei den Überzeugungen zum Eisbaden um "logische Konzepte". Koch erklärt: "Wir wissen, dass fünf Minuten Stress die Auswirkungen von chronischen Stress überschreiben können. Die Idee ist, dass Eisbaden als gezielt eingesetzter Stress auch so funktionieren müsste. Wir wissen, dass bei Stress Hormone ausgeschüttet werden, die anti-entzündlich wirken – also sollte Eisbaden Entzündungen reduzieren können. Das sind aber nur Ideen, keine Untersuchungen."
Das passiert beim Eisbaden mit dem Körper
Stress! Den habe ich am Samstagmorgen, als ich zum Plötzensee fahre, definitiv. Ich weiß gar nicht so genau, wovor ich Angst habe. Wie so oft ist Furcht eher diffus.
Am Treffpunkt der "Ice Dippers" angekommen, treffe ich auf die ersten Teilnehmenden. Sie erzählen mir, dass sie es vor allem aus mentalen Gründen machen. Rauskommen, Aktivität, Gemeinschaftsgefühl, Widerstandsfähigkeit – besonders im derzeit so grauen und trostlosen Berlin mehr als verständliche Motive.
"Wir sind evolutionär darauf eingestellt, dass solch ein Szenario nur eintritt, wenn wir aus Versehen im Eis einbrechen – also eine lebensbedrohliche Situation entsteht. So werden massiv Stresshormone ausgeschüttet, neben Adrenalin und Dopamin vor allem Cortisol", erklärt Simone Koch die körperlichen Reaktionen beim Eisbaden. "Das Ziel ist es, diese Schockreaktion zu überschreiben und in der Stresssituation zur Ruhe zu finden, also die Atmung zu regulieren. Darin liegt die mentale Herausforderung: Kann ich meinen Stress in solch einer Situation kontrollieren, kann ich es auch in anderen Momenten, die eigentlich Panik in mir auslösen."
Außerdem ziehen sich die Gefäße zusammen - ein recht gutes Training für das Herz-Kreislauf-System, wie Koch meint. Aber auch der Grund dafür, warum Menschen mit Herzproblemen und peripheren Durchblutungsstörungen wie Raucherbeinen vor dem Eisbaden definitiv ein Gespräch mit ihrer Ärztin oder ihrem Arzt aufsuchen sollten.
Eisbaden für Anfänger - Atmen hilft
Jakob leitet die "Ice Dippers"-Gruppe am Plötzensee, früher war er auch nur Teilnehmer. Auch er verbindet vor allem mentale Aspekte mit dem Eisbaden, es tut ihm seelisch gut, sagt er. Ich beginne zu verstehen. Zwar ist es bereits außerhalb des Wassers, obwohl dick eingepackt, unangenehm kalt, aber so ein Samstagsmorgen ist auch äußerst friedlich. Ein paar Enten jagen sich über das ansonsten völlig ruhige Wasser, das einem Stillleben gleicht.
Mit der Zeit füllen sich die Steintreppen vor dem Ufer des Plötzensees. Ich bin überrascht, knapp 40 Personen sind gekommen. Da sei immer so, bestätigt Jakob. Es herrscht eine sehr angenehme, ruhige Atmosphäre. Jakob begrüßt die Gruppe und erklärt die Atemübungen, die wir vor dem Eintritt ins Wasser durchführen werden. 30 Mal schnell ein- und ausatmen, dabei Bauch und Lunge füllen; anschließend einatmen, den Atem halten, alle Muskeln anspannen – und ausatmen; danach machen wir Liegestütze. All das dient dazu, den Körper aufzuwärmen und Kontrolle über die Atmung zu erlangen.
Die Atemtechniken stammen von Wim Hof, einem niederländischen Sportler, der als Eisbade-Guru gilt. Seine Methoden sind so verbreitet wie wissenschaftlich unbelegt. Aber ich kann nicht leugnen: Nach den Atemübungen fühle ich mich deutlich eher bereit, ins Wasser zu steigen. Ich bin fokussiert, meine Gedanken kreisen nicht mehr, kein Hadern mehr.
Gegenüber vom Strandbad Plötzensee kann man jeden Samstag mit den "Ice Dippers" Eisbaden gehen.
Die Ruhe nach dem Eisbade-Schock
Mindestens 30 Sekunden solle man ins Wasser, erklärt Jakob, damit sich der Körper an die Kälte gewöhnen kann. Bei drei und fünf Minuten würde er eine Durchsage machen. Ich vermute, dass jene Durchsagen nicht für mich gelten werden. Ich gebe mir bei 2 Grad Celsius Außentemperatur nicht mehr als 60 Sekunden im Wasser. Bereits das Ausziehen an den Steintreppen ist hochgradig kontraintuitiv, wieso tut sich das jemand freiwillig an?!
Aber ich habe keine Wahl mehr, es geht bis zur Brusthöhe ins Wasser. Die ersten 30 Sekunden sind der oft angesprochene Schock. Mein ganzer Körper wehrt sich, meine Nerven schreien, mein Gehirn ist mit all den Informationen überfordert. Doch ich finde zu mir und beginne, wie eben trainiert, meine Atmung zu kontrollieren.
Es funktioniert, ich komme immer mehr zur Ruhe. Nach rund einer Minute bin ich völlig bei mir, es ist regelrecht meditativ. Ich bemerke, wie sich auch viele weitere Anfänger:innen um mich herum an die Temperatur gewöhnen und beinahe gelöst anfangen zu lachen.
"Unter 6 bis 8 Grad Celsius werden die Nerven taub. Außerdem beruhigt sich das Körpersystem nach dem ersten Schock, dann baut sich die physiologische Schutzreaktion auf – eine Überlebensstrategie des Körpers, der die Systeme herunterfährt, um dem Gehirn Ruhe zu geben", erklärt mir Simone Koch im Nachhinein.
Eisbaden? Euphorie!
Plötzlich höre ich, wie Jakob die Drei-Minuten-Marke verkündet. Wie das? Ich war doch gefühlt erst ein paar Sekunden im Wasser, mein Zeitgefühl ist durch die Stressreaktion verloren gegangen.
Lange halte ich es aber nicht mehr aus, nach rund drei Minuten und 20 Sekunden verlasse ich den See. Manche Teilnehmende waren bereits draußen, andere bleiben unglaubliche zehn Minuten im frostigen Nass. Sich bei diesem kühlen Wind abzutrocknen und wieder anzuziehen, kommt mir wesentlich schlimmer als das Eisbaden vor.
Wieder dick eingepackt, setzt eine regelrechte Euphorie in mir ein. Ich fühle mich stolz und unbesiegbar, komme aus dem Grinsen kaum noch raus. Viele kommen wieder, sagte mir Jakob zu Beginn.
Ich wollte es erst nicht glauben, aber jetzt verstehe ich. Geist und Körper fühlen sich nach dieser extremen Erfahrung wie frisch aus dem Ei gepellt. Ich fühle mich nach dem Eisbaden aktiviert, die Hormone treiben mich in ein Hoch. Beschwingt fahre ich nach Hause. Es ist erstaunlich, was der menschliche Körper, der in der modernen westlichen Welt selten noch herausgefordert wird, alles aushält. Ob ich nochmal wiederkomme? Weiß ich nicht, aber eine positive Erfahrung war es allemal.