Max Verstappen und Sergio Perez
analyse

Zoff, Abgänge und fehlende Bekenntnisse Formel-1-Krise - Red Bull ist einfach zu satt

Stand: 03.10.2024 16:14 Uhr

In der Konstrukteurs-WM ist McLaren schon an Red Bull vorbeigezogen, bei den Fahrern bröckelt der Vorsprung des vor der Sommerpause noch fast uneinholbar führenden Max Verstappen extrem. Dazu streitet der Weltmeister-Rennstall öffentlich und verliert einen wichtigen Mitarbeiter nach dem anderen - ein Report.

Von Christian Hornung und Lisa Höfer

Von einer schweren Krise zu sprechen, ja sogar auf manchen Ebenen von einem völligen Zerfall, wirkt beim ersten Blick auf die WM-Wertung vor dem Großen Preis der USA vom 18. bis 20. Oktober (alle Sessions im Live-Ticker bei der Sportschau) möglicherweise grotesk. Verstappen liegt auf Platz 1 mit 52 Punkten Vorsprung auf Lando Norris im McLaren. Wenn der Niederländer in den verbleibenden sechs Rennen jedesmal Zweiter wird, ist er zum vierten Mal in Serie Weltmeister.

Die andere Seite der Wahrheit offenbart sich, wenn man sich einen Blick zurück in den Juni dieses Jahres gönnt. Vor drei Monaten gewann Verstappen den Großen Preis von Spanien, feierte damit seinen siebten Sieg im zehnten Rennen. In der Fahrerwertung thronte er mit 216 Zählern an der Spitze, Norris folgte mit 150 und fiel anschließend noch weiter zurück, weil er in Österreich ausschied und in England hinter Verstappen landete. Verstappens Vorsprung nach Spielberg: satte 84 Punkte.

Verstappen plötzlich sieglos - aber McLaren reagiert vielleicht zu spät

Was nach dem Rennen in Barcelona aber wohl niemand für möglich gehalten hatte: Es war bis heute der letzte Sieg Verstappens. In den acht folgenden Grand Prix erlitt der Überehrgeizling teilweise demütigende Niederlagen, wurde einmal Sechster, dreimal Fünfter, einmal Vierter und dreimal Zweiter. Um die Spitze im Auge zu behalten, hätte er sich mehrfach das Fernglas von Uli Hoeneß leihen müssen, das der Bayern-Boss immer mal wieder den Verfolgern in der Bundesliga empfohlen hatte.

Dass es in der WM nicht längst schon noch viel spannender geworden ist, liegt daran, dass sich die Verfolger gegenseitig die Punkte abnahmen und McLaren immerhin am 13. September zu der Erkenntnis gelangte, jetzt aber Norris mal zur Nummer 1 zu machen.

Lando Norris und Max Verstappen

Sinnbildlich für die aktuelle Saisonphase: Lando Norris hängt Max Verstappen ab

Ärger auf allen Ebenen bei Red Bull

Abseits des sportlichen Bereichs brannte und brennt es bei Red Bull aber auf allen anderen Ebenen bereits lichterloh: technisch, personell, kommunikativ - die Außendarstellung wurde zum Desaster. Noch immer leidet der schwerreiche Rennstall unter dem Umgang mit der Affäre um Teamchef Christian Horner.

Die Mitarbeiterin, die Horner der sexuellen Belästigung bezichtigte, wurde zwar nach einer angeblich unabhängigen Untersuchung entlassen. Im Raum stehen laut niederländischen Medien aber weiterhin Chat-Protokolle und andere Inhalte, die allen Formel-1-Teamchefs und vielen Journalisten zugespielt wurden und Horner schwer belasten.

Marko gegen Horner - Verstappen-Vater mit klaren Worten

Der in dieser Causa stets erstaunlich früh informierte "De Telegraaf" berichtete zudem von hohen Schweigegeldangeboten Horners an die Ex-Kollegin. Er ist dennoch immer noch im Amt, was Jos Verstappen zu der Aussage über Horner brachte: "Wenn er bleibt, explodiert Red Bull."

Was der einflussreiche Vater von Max in der Öffentlichkeit sagt, darf man durchaus auch seinem Sohn zuordnen. Das Zerwürfnis zwischen Horner und Verstappen junior ist verbrieft. Dazu gab es einen offenen Machtkampf zwischen Horner und Motorsportchef Helmut Marko, der wiederum ganz eng mit den beiden Verstappens verbunden ist. Auf der Marko- und Verstappen-Seite steht auch Mark Mateschitz, der Sohn des 2022 verstorbenen Red-Bull-Gründers Dietrich Mateschitz.

Helmut Marko und Christian Horner von Red Bull Racing

Mehrheitseigner hält an Horner fest - und Arroganz macht sich breit

Der Mehrheitseigentümer des Rennstalls, Chaleo Yoovidhya aus Thailand, hält aber eisern an Horner fest - auch wenn Red-Bull-Sportchef Oliver Mintzlaff bei Yoovidhya vorgesprochen haben soll, um die Trennung von Horner zu forcieren. Mintzlaff geht es dabei auch um die weltweite Außenwirkung des Unternehmens: In den USA gab es in Folge des Horner-Skandals Forderungen von Frauenrechtlern, Red Bull aus den Supermärkten zu verbannen.

Dass es unter Dietrich Mateschitz niemals so weit gekommen wäre, ist ein Satz, der in der Red-Bull-Familie immer wieder zu hören ist. Doch kaum zu leugnen ist auch der Eindruck, dass sich spätestens nach der ersten sportlich souveränen Saisonhälfte des Jahres 2024 Arroganz im Team breitmachte. Anstatt auch für das laufende Jahr in ständige Weiterentwicklungen des Autos zu investieren, so wie das beispielsweise McLaren machte, wurde offenbar bereits viel zu sehr die Zukunft mit den bevorstehenden Regeländerungen ins Visier genommen.

Gleich drei Top-Mitarbeiter verabschieden sich

Parallel zu all diesen Missständen, teilweise sicher auch durch diese begründet, macht sich ein Top-Mitarbeiter nach dem anderen vom Hof. Der mit Sicherheit schmerzhafteste Abgang war der von Star-Designer Adrian Newey, der offiziell ab März 2025 für Aston Martin arbeiten wird. Auch der langjährige Sportdirektor Jonathan Wheatley ist für Red Bull bald Vergangenheit, er wird sich zum Jahresende dem künftigen Audi-Werksteam anschließen.

In dieser Woche teilte dann auch noch Will Courtenay seinen Abschied mit. Er war bei Red Bull verantwortlich für die Rennstrategie und wird zum derzeit stärksten Konkurrenten McLaren wechseln.

Nicht auszuschließen ist, dass einer aus diesem Trio in der näheren Zukunft wieder mit Max Verstappen zusammenarbeiten wird. Der Dreifach-Weltmeister vermeidet zurzeit jedes klare Bekenntnis zur Erfüllung seines bis 2028 laufenden Vertrags, was die Frontmänner von Mercedes, Toto Wolff, oder auch von Aston Martin, Mike Krack, genüsslich für Abwerbebotschaften in Richtung Verstappen nutzten.

Sergio Perez mit erbärmlichen Leistungen

Bei Mercedes ist die Tür durch das neue Fahrer-Duo mit George Russell und Kimi Antonelli zwar wieder geschlossen, Wolffs Worte waren augenscheinlich eher gedacht, noch mehr Unruhe bei der satt wirkenden Konkurrenz zu stiften. Bei Aston Martin hat man aber Großes vor und denkt laut Krack auch an den großen Wurf bei den Fahrern.

Was bei Red Bull angesichts all dieser Großbaustellen fast unter den Tisch fällt, ist die sportlich erbärmliche Performance des zweiten Fahrers. Sergio Perez ist seit dem fünften Rennen der Saison mit Platz drei in China komplett abgedriftet. Zuletzt in Singapur durfte der Mexikaner froh sein, seinen Red-Bull-Boliden noch in die Top Ten gesteuert zu haben. Davor hatte er es sich regelmäßig im Bereich von Platz sieben oder acht bequem gemacht.

Verstappen droht mit Formel-1-Abschied

Für Perez' Leistungen hatte selbst sein langjähriger Befürworter Horner zuletzt das Wort "unhaltbar" benutzt. Und auch Marko wurde deutlich: "Für die Konstrukteurswertung brauchen wir zwei Fahrer, die vorne fahren können. Wir hoffen, dass Sergio noch zu seiner Form zurückfindet."

Als Entlastung für Verstappen, als Puffer gegen die aufholende Konkurrenz ist Perez jedenfalls ein Totalausfall. Das einzige, was vielleicht noch für seinen Verbleib bei Red Bull auch in der Saison 2025 spricht, ist der Verdacht, dass sich das Team sonst gleich zwei neue Fahrer suchen müsste.

Verstappen hadert und hadert, mit Horner, mit seinem Auto und nach seiner ziemlich albern anmutenden Bestrafung in Singapur zuletzt auch mit dem Großen und Ganzen: "Wenn man nicht mehr man selbst sein kann, ist es keine Möglichkeit für mich, mit dem Sport weiterzumachen." So wirklich Spaß an der Arbeit scheint gerade bei Red Bull irgendwie niemand mehr zu haben.