Jahresrückblick 2022 Gina Lückenkemper - der Pep Talk ihres Lebens
Es war einer der Gänsehaut-Momente 2022: Gina Lückenkemper gewinnt die Goldmedaille über 100 Meter bei den Leichtathletik-Europameisterschaften in München. Warum sie beinahe im Finale gar nicht gestartet wäre und was ihr Dackel mit Leistungssport zu tun hat, verrät sie der Sportschau im Interview zum Jahresrückblick.
Sportschau: Hallo Gina Lückenkemper. Heute Morgen schon Pep Talk gehabt?
Gina Lückenkemper: Nee, heute Morgen tatsächlich noch nicht (lacht)!
Sie wissen, worauf ich hinaus will, im ARD-Interview nach Ihrem Sieg-Lauf bei der EM haben sie gesagt, "Lance (Brauman, ihr Trainer; Anm. der Redaktion) hat mir vorher den Pep Talk meines Lebens gegeben". Auf Deutsch: eine Motivationsansprache. Was genau hat er Ihnen denn gesagt?
Es war weniger eine Motivationsrede, es war vielmehr das verbale Leviten lesen! Aber das war in dem Moment genau das, was ich brauchte. Ich hatte eine Verspannung hinten am Oberschenkel, und ich war deshalb etwas verunsichert, nicht so richtig bei der Sache, ich hatte Angst, mich zu verletzen. Unsere Ärzte und Physios wollten die Verantwortung nicht übernehmen, das war eine ganz blöde Situation.
Da hatte Lance irgendwann die Schnauze voll und zu mir gesagt: "Pass auf, wir führen diese Unterhaltung jetzt EINMAL, und zwar hier und heute." Da hab ich schon gedacht, oh Gott, was kommt jetzt? Dann hat er mich angeguckt und gefragt: "Ist dir das Ganze heute hier wichtig? Gut, dann hast du jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder: Du reißt dich jetzt zusammen und läufst sauber. Wer wie du im Halbfinale so unsauber läuft, der braucht sich nicht zu wundern, dass der Oberschenkel sich beschwert. Das hat mir schon vom Zusehen wehgetan. Oder: Wir lassen es halt sein." (macht große Augen)
Mit dieser Ansage sind wir dann raus auf den Aufwärmplatz und haben eine kleine Technik-Einheit gemacht. Und dann war auch alles tutti, und ich bin ohne jeden Zweifel und ohne jeden Gedanken, dass vielleicht was wehtun könnte, ins Stadion rein.
Der Rest ist Geschichte… Sind sie generell der Typ, der manchmal den Tritt in den Hintern braucht, um über seine Grenzen zu gehen?
Normalerweise eigentlich nicht. Aber in München hab ich es definitiv gebraucht, und ich bin meinem Coach wirklich dankbar dafür. Aber es ist schon so, dass mich Stimmung und Atmosphäre sehr pusht, ich bin ein Mensch der unfassbar von äußerlichen Emotionen lebt, der selbst aber auch sehr, sehr emotional ist. Ich würde liebevoll sagen, ich bin ein Emotionsbiest. Was manchmal auch ein bisschen anstrengend sein kann (lacht).
Wenn man so emotional ist, wie behält man da die Zuversicht, wenn wie Anfang des Jahres, als die Form noch nicht wieder da war, sehr viel Kritik auf sie einprasselt?
Lance predigt bei uns in der Trainingsgruppe regelmäßig, dass wir nicht so viel auf Meinungen geben sollen von Leuten, die überhaupt keine Ahnung haben, wie wir uns vorbereiten. Es soll für uns immer nur die Meinung von den zehn Leuten zählen, die uns am nächsten stehen. Mein Trainer hat meine Leistungen immer richtig eingeordnet, und mein Umfeld hat immer an mich geglaubt in diesen extrem schwierigen Zeiten, das war sehr wichtig für mich.
Zwei Jahre lang hatte ich dauernd irgendwelche kleinen Verletzungen, da musste ich lernen, dass der Sport nicht nur von Höhen geprägt ist sondern auch Tiefen hat, da hab ich sehr viel über mich und meinen Sport gelernt. Es war hart, aber ich bin als Athletin mental gestärkt da rausgekommen.
Sind sie eher der Typ, der gut abschalten kann oder eher der, der "die Arbeit" mit nach Hause nimmt?
Naja, bei mir gehört ja selbst das Schlafen zu meiner Arbeit, weil Schlaf die beste Erholung ist für den Sportler. Von daher bin ich gefühlt permanent mit meinem Job beschäftigt. Allerdings haben wir in den letzten Jahren auch feststellen dürfen, ich muss definitiv wieder was finden, wo ich zu hundert Prozent abschalten kann.
Ist das richtig, dass ihr Psychologe ihnen deshalb einen Hund empfohlen hat?
(Lacht) Nicht so direkt. Der hat mir nur empfohlen, was zum Runterkommen zu suchen. Mit Tieren kann ich das ganz gut. Ich hab ja schon ein Pferd, das kann ich nur leider nicht mit in den Flieger nach Florida nehmen. Und deswegen ist die Entscheidung für einen Hund gefallen. Mit dem kann ich wirklich sehr gut abschalten.
Akira (ihr Dackel) hat keine großen Erwartungshaltungen an mich, die könnte es nicht weniger interessieren, wie schnell ich 100 Meter laufe, die interessiert sich nur, dass ich sie regelmäßig um den Wohnzimmertisch jage und mit ihr Fangen spiele, und diese kleinen Dinge für das Tier tun mir unfassbar gut. Akira ist deshalb sowas wie mein "Emotional Support Dog".
Abgesehen davon, dass sie Ihr Hund zum Training nach Amerika begleitet, was macht denn das Training dort so anders und besonders?
Allein in meiner Trainingsgruppe sind Olympiasieger, Weltmeister und Weltrekordhalter. Das ist etwas sehr Besonderes, was ich in Deutschland nicht vorfinden kann. Dazu kommt, dass Lance das Training nicht nur auf die Bahn bezieht, er sieht es als seine Aufgabe, seine Sportler ganzheitlich auszubilden.
Was heißt es, Profisportler zu sein, was gehört alles dazu? Wir sitzen jeden Mittwoch alle zusammen und tauschen uns aus über alle Aspekte des Profidaseins, nicht nur über Training und Technik sondern auch über Schlaf, Regeneration, Ernährung, Motivation. So ein Paket finde ich aktuell nirgendwo sonst. Sowas können wir uns in Deutschland kaum leisten.
Wir können hier froh sein, dass wir die Sporthilfe haben, die Bundespolizei und Bundeswehr, die den Sportlern Rückhalt geben, aber das reicht einfach nicht, auf dem Level unterwegs zu sein, wie das in anderen Ländern der Fall ist.
Wenn du, wie in Deutschland, nebenbei noch arbeiten musst, dann kannst du dich einfach nicht so dem Sport widmen, wie da drüben. Da bleibt zwangsläufig so viel auf der Strecke. Wenn du nach dem Training zur Arbeit oder ins Studium musst, dann kann man sich einfach nicht so gut erholen, um beim nächsten Training körperlich und mental wieder voll da zu sein. Das geht einfach nicht. Das sind zwei verschiedene Welten.
Entsprechend haben sie nach der WM, als das deutsche Team gerade mal zwei Medaillen gewann, es als nicht fair angesehen, was da an Kritik kam. Hat die Diskussion, die sie da angestoßen haben, schon was gebracht?
Ja, ich darf verkünden, dass der DLV erste Anstalten gemacht hat. Wir haben bereits einmal zusammengesessen zum Thema Athletenförderung. Im Januar geht es in die nächste Runde. Sie beziehen jetzt endlich auch mehr Athleten ein, und ich hoffe, dass wir da was bewegen können.
Das Gespräch führte Frank Meyer.