EURO 2024 Pinke Haare, Schuhplattler und Wahlkämpfer - die andere Elf der EM
Ein Kämpfertyp mit Faible für gefärbte Haare, ein schottischer Schuhplattler und Wahlkämpfer gegen rechts: die etwas andere Elf der Saison.
Tor - Marc-André ter Stegen (Deutschland)
Marc-Andre ter Stegen sitzt während eines EM-Spiels auf der Bank
Niederrheiner gelten als entspannte Zeitgenossen. Marc-André ter Stegen, geboren und aufgewachsen im Mönchengladbacher Stadtteil Lürrip, lebt seit zehn Jahren in der katalonischen Metropole Barcelona, aber seine Entspanntheit hat er sich bewahrt. Die hat er auch nötig, denn er erleidet ein sportlich beinahe beispielloses Schicksal: Er ist einer der besten Torhüter der Welt, hat die Champions League gewonnen, fünf Mal die spanische Meisterschaft und den Pokal.
Aber in der Nationalmannschaft kommt er nicht zum Zuge. Seit gut einem Jahrzehnt ist er die Nummer zwei beim DFB – und blieb das auch, als Manuel Neuer lange verletzt ausfiel und sich vor der EM ungewohnte Unsicherheiten leistete. Die Hoffnung stirbt aber zuletzt: Neuer ist bereits 38, die Zeit arbeitet für den sechs Jahre jüngeren ter Stegen. Allerdings hat Manuel Neuer noch nicht ausgeschlossen, auch bei der WM 2026 im Tor stehen zu wollen.
Abwehr - Merih Demiral (Türkei)
Der Fußball ist ein Brennglas, sagen Soziologen und Fanforscher gerne. Und meinen: Gesellschaftliche Entwicklungen zeigen sich auch im Fußball, aber noch einmal verschärft und dringlicher. So auch bei der EM in Deutschland. Das Turnier war auch eine Bühne für Rechtsextremisten: aus Ungarn, aus Serbien, aus Kroatien und aus Österreich.
Die größten Wellen schlug der "Wolfsgruß" des türkischen Verteidigers Merih Demiral nach dem Sieg gegen Österreich. Das Symbol der rechtsextremistischen "Grauen Wölfe" wurde zur Staatsaffäre, sorgte für gegenseitige Einbestellung der Diplomaten in Berlin und Ankara, eine Reiseumbuchung und eine Sperre von zwei Spielen gegen Demiral. Fußball und Politik lassen sich eben nicht trennen.
Abwehr - Marc Cucurella (Spanien)
"Wenn die Schiedsrichter sagen, es ist kein Handspiel, dann respektiere ich das als Spieler natürlich", sagte Marc Cucurella. Dann lachte er. Vielleicht war es dieses Lachen, das einen Teil der deutschen Fußball-Fans endgültig auf die Palme brachte und den Spanier, dessen vermeintliches Handspiel in der Verlängerung des Viertelfinales gegen Deutschland aus Sicht der DFB-Anhänger zu Unrecht ungeahndet geblieben war, endgültig zum sportlichen Staatsfeind Nummer eins machte.
Zwei Tage später beim Halbfinale erhielt der Außenverteidiger die Quittung. Bis zur letzten Minute wurde er bei jeder Ballberührung ausgepfiffen. Damit stellten die deutschen Fans den während des Turniers mühsam aufgebauten Ruf als fairer Gastgeber auf die Probe. Im Finale dann die gleiche Soundkulisse, wenn auch etwas zurückgenommener. Und Cucurella? Tat das einzig richtige: Mit einer blitzsauberen Vorarbeit hatte er großen Anteil am spanischen Triumph.
Abwehr - Riccardo Calafiori (Italien)
Italiens Innenverteidiger und "Hot Rodent Man" Riccardo Calafiori
Im Internet macht dieser Tage ein Trend die Runde: "Hot Rodent Men" - junge Männer, die phänotypisch an Nagetiere erinnern, sind in der Generation Z so etwas wie der niedliche Gegenentwurf zur toxischen Männlichkeit. Die Schauspieler Timothée Chalamet oder Adam Driver gehören dazu, auch Sänger Harry Styles. Bei der EM war die Auswahl an Hot Rodent Men eher überschaubar. Wäre da nicht der italienische Verteidiger Riccardo Calafiori gewesen.
Die Italiener mussten nach mit durchwachsen noch diplomatisch bezeichneten Vorstellungen die EM schon nach dem Achtelfinale verlassen. An ihre Auftritte wird man sich in Wochen schon nicht mehr erinnern - an ihre einzige Lichtgestalt Calafiori vermutlich länger. Der 22-Jährige erfüllt die italienische Liebe nach eleganten Verteidigern mit ebensolcher Spieleröffnung - spätestens seit Paolo Maldini ein absoluter Sehnsuchtstypus Fußballer. Und dass die italienische Ausgabe der Männerzeitschrift "GQ" bescheinigt, Calafiori habe "die Fähigkeit, ein Sexsymbol zu sein", wird dem Hype sicher keinen Abbruch tun.
Mittelfeld - Nedim Bajrami (Albanien)
"Und dann läuft auch diese Partie am Abend. Albanien in Schwarz-Rot, gegen den Titelverteidiger Italien. Trocken ist es. 17 Grad. Dramatischer Fehleinwurf, und direkt die Führung durch Bajrami." Viel Zeit hatte Tom Bartels nicht am ersten Spieltag der Gruppe B, um die Kontrahenten vorzustellen – da führten die Albaner auch schon. Nedim Bajrami traf nach nur 23 Sekunden – es war das schnellste Tor der EM-Geschichte und sicherte dem Mann von US Sassuolo einen Eintrag in den Geschichtsbüchern.
"Für Albanien bei einer Europameisterschaft zu treffen ist ein Traum für mich. Ich habe hart dafür gearbeitet", sagte Bajrami nach der Partie. Letzteres ist in neun von zehn Fällen eine Floskel - in seinem Fall stimmt es allerdings tatsächlich. Bajramis Arbeit meinte dabei nicht nur Fußballplatz und Kraftraum. Der in der Schweiz geborene und aufgewachsene Sohn mazedonischer Einwanderer musste tatsächlich vor den internationalen Sportgerichtshof CAS ziehen, um für Albanien spielen zu dürfen. Er bekam schließlich Recht. Hat sich gelohnt.
Mittelfeld - Christian Eriksen (Dänemark)
Der 12. Juni 2021 ist ein Tag, den nicht nur Sportjournalisten so leicht nicht vergessen werden. Sehr viele Kolleginnen und Kollegen wurden damals Zeugen, wie der Däne Christian Eriksen beim ersten Gruppenspiel gegen Finnland ohne Fremdeinwirkung zusammenbrach und minutenlang wiederbelebt werden musste. Die Bilder weinender Mitspieler, die ein Spalier als Sichtschutz um ihren gerade mit dem Leben ringenden Mitspieler bilden, sind über den Fußball hinaus ikonisch geworden.
Auf seinen nächsten EM-Einsatz musste Eriksen exakt 1.100 Tage warten - und sorgte dann erneut für einen ikonischen Moment. Der Mittelfeldspieler, der mittlerweile mit einem internen implantierbaren Defibrillator spielt, erzielte sehenswert die Führung für die Dänen. Und es gab wohl niemanden, der in diesem Augenblick nicht die Bilder von damals im Kopf hatte und kaum jemanden, der sich nicht mit dem Dänen freute.
Mittelfeld - Robert Andrich (Deutschland)
Deutschlands Robert Andrich reagiert während eines EM-Spiels
Ex-Torhüter Jens Lehmann ist seit Jahren ein zuverlässiger Lieferant exklusiver Verlautbarungen, die mal rassistisch, mal ärgerlich und mal schlicht bizarr daherkommen. Auch bei dieser EM hatte Lehmann wieder seinen "Moment to Shine" – angesprochen auf die neue Haarfarbe von Robert Andrich, der sich ganz in pink präsentierte. "Heutzutage muss man ja vorsichtig sein, weil vielleicht fühlt er sich ja heute auch als Frau oder so. Was will er uns damit zeigen? Hat er irgendwie Persönlichkeitsprobleme, dass er so auffallen muss?", irrlicherte Lehmann.
Die Antwort des Mittelfeldkriegers fiel schlicht aus: "Die, die mich schon länger verfolgen oder meine Freunde und Familie, die sind nicht überrascht." Und so machte er Pink nach den deutschen Auswärtstrikots, die sich so gut verkauften wie kein Trikot der Geschichte zuvor, endgültig zur Kultfarbe der EURO.
Mittelfeld - John McGinn (Schottland)
Fußball-EM: Schottlands McGinn tanzt beim Empfang in Garmisch-Partenkirchen
Wir haben 100 Leute gefragt: Nennen sie uns einen Song, den sie von der EM in Erinnerung behalten werden? 96 Leute haben gesagt: "No Scotland, no party". Hach, die Schotten. Sportlich das am wenigsten konkurrenzfähige Team, eroberten die Fans bei der EM die deutschen Herzen im Sturm. Normalerweise verbarrikadieren die Menschen ihre Türen, wenn Zehntausende Fußballfans durch Innenstädte prozessieren. Als die Schotten mit 35.000 Fans durch Köln prozessieren, stehen die Menschen am Fenster und applaudieren.
Die Zuneigung endet nicht bei den Fans - auch die Spieler bemühen sich um Vökerverständigung. Schottlands Mittelfeldspieler John McGinn beim tradionellen Schuhplattler kann als der verlängerte Arm schottischer Fan-Folklore betrachtet werden. Kein Wunder, dass nach dem frühen Aus der Schotten Katzenjammer herrschte. Und die Deutschen taten prompt das, was sie momentan am besten tun: Sie setzten eine Petition auf mit der Forderung eines jährlichen Länderspiels gegen Schottland.
Angriff - Cristiano Ronaldo (Portugal)
Nein, es war nicht das Turnier des Cristiano Ronaldo. Zwar kamen die Portugiesen ins Viertelfinale, das aber nach einhelliger Meinung eher trotz Ronaldos Teilnahme denn aufgrund seines Mitwirkens. Letzteres hemmt seine überaus talentierten Mitspieler zunehmend und hindert sie an ihrer Entfaltung. Wie ein Kollege nach dem Achtelfinale schrieb: "Wenn der Chef im Büro eine Hand auf die Schulter legt und von hinten mit auf den Bildschirm starrt, arbeitet es sich nicht gut."
Symbolhaft fast schon das Geschehen im Achtelfinale gegen Slowenien: Ronaldo schnappte sich in der Verlängerung den Ball beim portugiesischen Foulelfmeter, verschoß und weinte im Nachgang hemmungslos. Vielleicht, weil er insgeheim doch spürt und weiß, dass seine Zeit vorbei ist. Wahrhaben will er es aber noch nicht. Es gibt solche Fälle immer wieder im Sport, wo einstige Superstars nicht loslassen können. Rafael Nadal ist ein Beispiel im Tennis, Michael Jordan war ein Beispiel im Basketball. Sie alle waren und sind lebende Legenden. Aber auch Legenden müssen irgendwann in Rente gehen. Ronaldo kündigte nach dem Aus an, dass dies definitiv seine letzte EM gewesen sei. Über die WM in zwei Jahren sagte er nichts.
Angriff - Niclas Füllkrug (Deutschland)
Ein unmittelbarer Effekt der EM war, dass nun ganz Europa weiß, dass die Deutsche Bahn in den Bereichen Pünktlichkeit, Effizienz und Infrastruktur partiellen Optimierungsbedarf aufweist. Oder, wie österreichische Fans etwas prosaischer skandierten: "Die Deutsche Bahn ist so im Oarsch." Das lernten die Niederländer vor dem Halbfinale, als ihr Zug von Wolfsburg nach Dortmund ausfiel, die Türken nutzten einfach vorsorglich auch für kürzeste Strecken das Flugzeug. "Angstgegner Deutsche Bahn", titelte die "Süddeutsche" treffend.
Deutsche Nationalspieler wissen schon länger um die Unzuverlässigkeiten ihres nationalen Mobilitätsanbieters. So auch Niclas Füllkrug. Als er nach dem Champions-League-Finale per Bahn ins deutsche Quartier reiste, kam er lieber einen Tag früher, "aus Respekt vor der Deutschen Bahn". Natürlich ging auch diese Fahrt nicht ohne Ausfälle und Verspätung vonstatten, Füllkrug fand schließlich noch ein Plätzchen in einem überfüllten Zug und unterhielt dort eine ganze Abiturklasse - zu beidseitigem Vergnügen, wie er versichert. Kann man auch so sehen: Ohne die Unzulänglichkeiten der DB wäre das so nicht möglich gewesen.
Angriff - Marcus Thuram (Frankreich)
Marcus Thuram
"Ich gratuliere allen, die angesichts der Gefahr, die über unserem schönen Land schwebte, teilgenommen haben. Es lebe die Vielfalt, es lebe die Republik, es lebe Frankreich. Der Kampf geht weiter." Das haben nicht etwa die französische Grünen-Chefin Marine Tondelier oder Jean-Luc Mélenchon von der linken La France insoumise gesagt, sondern Marcus Thuram, Stürmer der französischen Nationalmannschaft. Parallel zur EM stand in der Heimat die Stichwahl zur Nationalversammlung an, und viele französische Spieler mit Einwanderungsgeschichte verliehen vorab ihrer Sorge vor einem Wahlsieg des rechtspopulistischen "Rassemblement National" Ausdruck und forderten ihre Landsleute zur Wahl auf, darunter Kylian Mbappé, Jules Koundé, Aurélien Tchouaméni und Ousmane Dembélé.
Der französische Verband sah sich daraufhin genötigt, seine Neutralität zu versichern und rief zur Zurückhaltung auf. Trainer Didier Deschamps stellte aber klar: "Die Spieler haben die Freiheit, mit ihren Worten ihrem Gefühl entsprechend zu sagen, was sie sagen wollen." Richtig so.
Die etwas andere Elf der EM