Englands Harry Kane

England bei der EM Nur zahme Löwen

Stand: 24.06.2024 20:22 Uhr

England galt vor der EM als Titelfavorit, aber spielt nicht wie einer. Das liegt auch an der Taktik des Trainers Gareth Southgate. Er wird vor dem Spiel gegen Slowenien am Dienstag (25.06.2024, ab 20.15 Uhr im Live-Ticker und in der Radio-Reportage) oft kritisiert.

Von Tim Beyer, Köln

Kürzlich hat Harry Kane sich positioniert. Es ging dabei ausnahmsweise nicht um Räume vor dem Tor des Gegners, es ging um einen Mann, über dessen Wirken gerade leidenschaftlich diskutiert wird. "Englands Trainer zu sein ist eine wirklich schwierige Aufgabe, das weiß er, das wissen wir", sagte Kane, und er meinte natürlich Nationaltrainer Gareth Southgate. "Aber er ist absolut der richtige Mann für den Job."

Kane, 30, und Southgate, 53, arbeiten schon viele Jahren zusammen. Als Southgate 2016 Nationaltrainer wurde, war Kane bereits im Kader, aber noch nicht die entscheidende Figur. Southgate vertraute Kane, als der noch kein Angreifer war, der beim FC Bayern unter Vertrag stand. Später machte er ihn zum Kapitän. Das verbindet, auch in schwierigen Zeiten.

Und das hier sind zumindest keine einfachen Zeiten. Das gilt für Englands Nationalmannschaft, die zwar mit vier Punkten aus zwei Spielen die Gruppe C anführt, aber weder beim Sieg gegen Serbien noch beim Remis gegen Dänemark wirklich überzeugt hat. Es gilt für den Torjäger Kane, der bei dieser Europameisterschaft einmal traf, aber sonst selten auffiel. Und es gilt auch für den Trainer Southgate. Er wird gerade oft kritisiert.

Shearer sagt: "Es ist besorgniserregend"

Einer, der mit den Auftritten Englands bei der EM nicht zufrieden war, ist Alan Shearer. Früher war Shearer, 53, ein Torjäger wie heute Kane einer ist. Heute ist er Fernseh-Experte. Er sagte der "BBC": "Southgate holt einfach nicht das Beste aus den Spielern heraus. Es ist besorgniserregend."

Ähnlich sah das auch Gary Lineker. Einst war er einer der besten Spieler seiner Zeit, ein eleganter Fußballer, der viele Tore erzielte. Nun ist auch Lineker, 63, ein Experte. Die Auftritte Englands bei der EM nannte er "leblos und halbherzig".

Und dann war da noch die Boulevardzeitung "The Sun". Sie titelte: "Zahme Löwen." Es war ein schönes Bild. Tatsächlich wirkten die Spieler der "Three Lions", wie die Engländer ihre Nationalmannschaft gerne nennen, zuletzt manchmal wie Raubtiere in einem zu engen Zoo-Gehege, ohne Feinde, aber satt. Sie waren dann nur zahme Löwen.

Englands Trainer Gareth Southgate

Englands Trainer Gareth Southgate

Southgate sagt: "Muss intelligente Entscheidungen treffen"

Auch deshalb wird nun über das Wirken des Trainers Southgate diskutiert. Als er die Nationalmannschaft übernahm, war die gerade bei der EM 2016 gegen Außenseiter Island ausgeschieden. Southgate führte die Mannschaft bei der WM 2018 zu Platz vier und bei der EM drei Jahre später ins Finale. Doch ein Held war er deshalb noch nicht, dafür hätte er schon einen Titel gewinnen müssen. Und das scheint möglich. Zumindest in der Theorie.

Southgate stehen einige der besten Fußballer der Welt zur Verfügung. In seinem Kader bei dieser Europameisterschaft ist nicht nur der Torjäger Kane ein Spieler von Format, da sind auch Jude Bellingham, 20, und Phil Foden, 24. Da sind Bukayo Saka, 22, und Declan Rice, 25. Sie sind Teil einer Mannschaft, die gegen Serben und Dänemark mehr holen sollte als einen knappen Sieg und ein Remis.

"Ich bin mein größter Kritiker", sagte Southgate. "Es liegt an mir, Lösungen zu finden. Ich muss intelligente Entscheidungen treffen." Eine könnte sein, Bellingham neben Rice ins defensive Mittelfeld zu verschieben, dann könnte Trent Alexander-Arnold seinen Platz dort verlieren. So entstünde Platz für einen weiteren Spieler, der zuerst offensiv denkt. Einen wie Cole Palmer.

Für den FC Chelsea hat Palmer, 22, in dieser Saison 22 Tore erzielt und elf Vorlagen gegeben. Im November hat Palmer für England debütiert. In den beiden Testspielen vor Beginn der EM spielte er 138 Minuten und traf einmal. Doch nun, wo das Turnier läuft, setzt Southgate auf andere Spieler. Palmer kam noch nicht zum Einsatz.

Bei Southgate geht Defensive vor Offensive

Das liegt womöglich auch daran, dass der ehemalige Verteidiger Southgate ein Trainer ist, der zuerst an die Defensive denkt. Ihm ist die Absicherung wichtig und die Stabilität. Kreativspieler wie Palmer haben es schwer, für sie waren in Englands Elf oft höchstens vier Plätze vorgesehen.

Die Frage, welche Lösungen Southgate vor dem letzten Vorrundenspiel erkannt hat, wird auch Rio Ferdinand mit Interesse verfolgen. Ferdinand, 45, war früher selbst ein Verteidiger der Extraklasse, heute ist er Experte. Auch er hat Southgate zuletzt kritisiert. Er sagte der "BBC": "Unsere besten Spieler sind in der Spitze des Spielfeldes und wir entscheiden uns dafür, uns auf die Verteidigung zu konzentrieren."