Thomas Tuchel bei einer Pressekonferenz der englischen Nationalmannschaft

England in der WM-Qualifikation Mister Tuchel lernt Spagat

Stand: 20.03.2025 15:14 Uhr

Thomas Tuchel als Nationaltrainer? Finden in England nicht alle gut: ein Deutscher, ausgerechnet. Was er dort plant, zeigt sich am Beispiel eines Spätberufenen.

Auf den Anruf von Thomas Tuchel hat Dan Burn viele Stunden gewartet. Als er nicht mehr damit rechnete, ploppte auf dem Display seines Handys doch noch die Nummer von Tuchel auf. Das war am Donnerstag vergangener Woche. Es war inzwischen Abend geworden. Was in den folgenden Minuten passiert ist, hat Burn zuletzt erzählt. Tuchel, sagt Burn, habe ihn zunächst dafür kritisiert, dass er überhaupt noch wach sei um 22 Uhr. "Er sagte, das sei unprofessionell."

An diesem Punkt seiner Geschichte hat Burn mindestens mal gegrinst, weshalb man davon ausgehen darf, dass es sich um einen Scherz des Nationaltrainers gehandelt hat, der ganz nach dem Geschmack des Angerufenen war. Tuchel hat Burn außerdem mitgeteilt, dass er ihn in den Kader der englischen Nationalmannschaft für die Spiele gegen Albanien (Freitag, 21.03.2025, ab 20.45 Uhr im Live-Ticker) und Lettland berufen hat.

Im ersten Aufgebot des noch immer recht neuen Nationaltrainers Tuchel ist der Verteidiger Burn, 32, die große Überraschung. Er könnte der zweitälteste Debütant Englands seit 75 Jahren werden. So einer fällt auf neben Stars wie Harry Kane, 31, oder Jude Bellingham, 21. Von ihnen unterscheidet Burn sehr viel mehr als nur die Position.

Burn hat mal in einem Supermarkt gearbeitet

Schon wie das mit ihm und dem Fußball begonnen hat: Burn war ein Jugendlicher, als er bei Newcastle United ausgemustert wurde. Er träumte trotzdem von einer Profikarriere. Er spielte zunächst in der fünften Liga, nebenbei arbeitete er in einer Supermarktkette. Das ist lange her. Heute ist Burn ein gestandener Premier-League-Spieler. Er hat dort fast 200 Spiele gemacht. Er spielt jetzt wieder für Newcastle, manchmal sogar in der Champions League.

Aber Burn und die Nationalmannschaft? Das war dann doch eine Überraschung. Tuchel sah das anders. Über Burn, der knapp zwei Meter groß ist, sagte er: "Ich war überrascht, dass er noch nie nominiert wurde, er ist so ein großer Kerl, aber offensichtlich ist es trotzdem einfach, ihn zu übersehen."

Mit Chelsea hat Tuchel die Champions League gewonnen

Fußballfans in Großbritannien haben Thomas Tuchel, 51, in seiner Zeit als Vereinstrainer des FC Chelsea als einen kennengelernt, der alles dafür tat, nichts und niemanden zu übersehen. Als Tuchel seinen Job in London im Januar 2021 antrat, war Chelsea ein Klub in der Krise. Ein halbes Jahr später gewannen sie zusammen die Champions League.

Der Fußball, den Tuchel spielen ließ, war pragmatisch, aber genau zugeschnitten auf die Möglichkeiten, die ihm der Kader bot. Nur das Ende war unschön: Im Herbst 2022 trennte sich der Klub von ihm, da stand Chelsea auf Rang sechs der Premier League. Tuchel, so berichteten es später einige Medien, habe sich mit den Vereinsbossen überworfen.

Nationaltrainer Englands? Ein Deutscher, ausgerechnet

Es mag auch mit den Erinnerungen an diese Zeit zu tun haben, dass die Reaktionen in England nicht nur positiv waren, als der Fußballverband Tuchel im Herbst 2024 zum Nachfolger von Gareth Southgate als Nationaltrainer ernannte.

Ob auch Tuchels Zeit beim FC Bayern, mit dem er einmal Meister geworden war, aber einmal nicht, eine Rolle spielte, blieb unklar. Die Motive einiger Boulevardmedien hingegen waren offensichtlich. Die "Daily Mail" etwa titelte: "Wir brauchen keinen Thomas Tuchel, sondern einen Patrioten."

Seitdem ist ein halbes Jahr vergangen. Im Januar hat Tuchel sein Amt offiziell angetreten. Er ist noch immer Deutscher, den Makel wird er nicht mehr los.

Mister Tuchel lernt Spagat

Tuchel macht nicht dein Eindruck, als beschäftigten ihn solche Diskussionen. Es wirkt eher, als habe er sich etwas einfallen lassen. Es scheint, als lerne Tuchel, der immer ein bisschen so aussieht, als könne er aus dem Stand einen Marathon laufen, nun Spagat: Er tut, was er für richtig hält. Er nominiert Dan Burn, weil er von ihm überzeugt ist. Er sitzt in Premier-League-Stadien, wenn er das für angemessen hält. Aber er verbringt auch mal ein Wochenende in München, wo seine Kinder leben.

Gleichzeitig sagt Tuchel Dinge, die in Großbritannien nur gut ankommen können. Bei seiner ersten Pressekonferenz bezog er sich auf Pelé, der einmal gesagt haben soll, Wembley sei das "Herz, die Hauptstadt und die Kathedrale" des Fußballs. Tuchel sagte: "Pelé hat recht." Und als ihn kürzlich ein Journalist um eine Antwort auf Deutsch bat, lehnte er das ab. Das, sagte Tuchel, sei "eine Frage des Respekts".

Nationaltrainer - Tuchel wird sich umstellen müssen

Entscheidend für die Zukunft des Trainers Tuchel aber wird ohnehin nicht das öffentliche Urteil über ihn sein. Über seine Zukunft werden wenige Menschen entscheiden, nämlich die an der Spitze des englischen Fußballverbands. Bis zum Ende der Weltmeisterschaft 2026 läuft Tuchels Vertrag - ihm soll gelingen, woran sein Vorgänger Southgate gescheitert war. Er soll mit England den ersten Titel seit fast 60 Jahren gewinnen.

Als Vereinstrainer hat Tuchel Titel mit Borussia Dortmund und Chelsea gewonnen, mit PSG und den Bayern. Er hat sich den Ruf eines gewieften Taktikers erarbeitet, der beim gemeinsamen Essen mit Pep Guardiola schon mal Salz- und Pfefferstreuer verschob, um damit Spielzüge nachzustellen. Nun wird er seine Arbeit umstellen müssen. Als Nationaltrainer kann er nicht mehr Tag für Tag an den Einzelheiten arbeiten. Er muss andere Schwerpunkte setzen.

In seinem neuen Job gehe es weniger um taktische Innovationen. Es gehe eher darum, "einen Geist und eine Bruderschaft aufzubauen", sagte Tuchel vor einigen Tagen. Entscheidend sei dabei nicht allein Talent. Das könnte die Chance sein für einen wie Burn. Einen "soliden Verteidiger", hat Tuchel ihn genannt. Er sah ihn ihm aber auch "einen Anführer".

Für Dan Burn, den Spätberufenen, wäre ein Einsatz in Englands Nationalmannschaft der vorläufige Höhepunkt einer Karriere, in der der Profifußball zwischenzeitlich nicht viel mehr als ein Traum war. Vor einigen Tagen, als er auf einer Pressekonferenz über seine Nominierung sprach, sagte Burn: "Ich will nicht mehr schlafen gehen, weil ich das Gefühl habe, zu träumen und alles wäre eine Lüge."