"Wir waren ängstlich" England katapultiert sich aus dem Favoriten-Kreis
England zeigt auch gegen Dänemark eine besorgniserregende Leistung und kann sich den EM-Titel in dieser Form jetzt schon abschminken. Gareth Southgate bleibt ein Rätsel, Harry Kane ist nur ein Phantom.
Kurz vor dem Ende der Partie hatte Englands Keeper Jordan Pickford plötzlich eine Idee. Der Schlussmann des FC Everton sprintete nach einem Foul der Dänen in Richtung Mittellinie und informierte seine Mitspieler gestenreich darüber, dass er diesen Freistoß nun ausführen werde. Mit einem letzten langen Ball und vielleicht ein bisschen Glück wollte Pickford doch noch den Sieg erzwingen.
Was dann passierte? Pickford, den ganz offensichtlich der Mut verließ, legte quer auf den völlig überraschten Kyle Walker. Dieser prügelte den Ball ins Tor-Aus und sorgte damit für ein Sinnbild des bisherigen Turniers. Denn so oder so ähnlich sehen sie aus, die englischen Offensiv-Bemühungen im Sommer 2024. Und dieses Team soll einer der Topfavoriten auf den EM-Titel sein?
England kein Titel-Kandidat mehr
Nach dem erneut enttäuschenden 1:1 gegen Dänemark lautet die Antwort darauf: nein. England zeigte am Donnerstagabend (20.06.2024) in Frankfurt die zweite schwache Leistung innerhalb von vier Tagen und löste damit nicht nur bei den zahlreichen mitgereisten Fans kollektives Kopfschütteln aus. "Das war eine ängstliche Performance von uns", gab Nationaltrainer Gareth Southgate wenige Minuten nach Abpfiff zu. Man kann und will ihm nicht widersprechen.
Es gab bei dieser bislang sehr unterhaltsamen Europameisterschaft wirklich schon jede Menge tolle und emotionale Momente. Die Türkei und die Slowakei, aber auch Georgien oder Albanien zeigten, was mit mutigem Fußball möglich ist. Die Schotten eroberten die Herzen aller Fans dank ihres Anhangs. Und ja, auch das viel kritisierte deutsche Team hat sowas wie eine Euphorie entfacht. Im krassen Gegensatz dazu steht England.
England fehlen nach vorne die Ideen
Diese Mannschaft, die so viel Potenzial und Talent in ihren Reihen hat, dass es bei kluger Zusammensetzung sogar für zwei Europameisterschafts-Teilnehmer reichen würde, kommt einfach nicht in Tritt. Wie schon gegen Serbien im ersten Spiel (1:0) gingen die "Three Lions" zwar auch dieses Mal früh in Führung.
Doch statt nach dem Treffer von Harry Kane (18.) die Offensiv-Wucht weiter auszunutzen, passierte erneut gar nichts. Das englische Team, der angebliche Topfavorit, igelte sich nur noch hinten ein und sah dabei zu, wie die Dänen immer stärker wurden.
"Es passiert nicht oft, dass einer der Turnierfavoriten nur noch lange Bälle spielt", fasste Dänemarks Stürmer Yussuf Poulsen gegenüber der Sportschau passend zusammen. Das Team von Trainer Southgate, der sich den Luxus leistete, einen Mann wie Jack Grealish von Manchester City gar nicht erst zu nominieren, wirkte gegen das hohe Pressing der Dänen überfordert und im Angriff ideenlos. Dass England erneut seltener aufs Tor schoss als der Gegner (12:16), dokumentiert die Harmlosigkeit. Früher Favorit, jetzt Sorgenkind.
Viele PS, aber keiner gibt Gas
"Die Erwartungen an uns sind hoch. Und es ist meine Verantwortung, sie zu erfüllen", sagte der schon nach dem ersten Spiel scharf kritisierte Southgate. Aktuell, so scheint es, kann der frühere Abräumer diese Erwartungen an ihn aber nicht erfüllen. Wieso er Spieler wie Phil Foden oder Trent Alexander-Arnold nicht auf ihren Lieblings-Positionen einsetzt, bleibt ebenso ein Rätsel wie die hohe Positionierung von Kane.
Dass Southgate immer zuerst ans Tore verhindern und dann erst ans Tore erzielen denkt, passt nicht zu diesem Team. England hat einen McLaren zur Verfügung. Das Wichtigste ist aber erst einmal, dass das Getriebe nicht kaputtgeht.
Southgates Maßnahmen verpuffen
Wie groß die Verzweiflung schon ist, zeigte zudem der Dreifach-Wechsel nach rund 70 Minuten. Mit Phil Foden, Bukayo Saka und Kapitän Kane nahm Southgate gleich alle drei Stürmer vom Feld und brachte dafür mit Eberechi Eze, Ollie Watkins und Jarrod Bowen drei auf der EM-Bühne unerfahrene Angreifer aufs Feld.
Die Maßnahme brachte fast schon erwartbar nichts ein. Dass Shootingstar Cole Palmer erneut überhaupt nicht zum Einsatz kam, verstehen hingegen nur sehr wenige. "Ich bin wirklich geschockt, dass wir Palmer noch nicht auf dem Feld gesehen haben", schrieb Ex-Nationalspieler Daniel Sturridge auf "X". Klar ist: Die Kritik an Southgate wird die nächsten Tage bestimmen.
Kane ein Schatten seiner selbst
Und dann wäre da natürlich noch Harry Kane. Der Stürmerstar, der nach einem dänischen Abwehrfehler immerhin seinen ersten Turniertreffer erzielte, blieb auch gegen Dänemark weit unter seinen Möglichkeiten. 21 Ballkontakte waren erneut der mit Abstand schlechteste Wert seines Teams, Kane wirkte erneut eher wie ein Fremdkörper als ein Ankerpunkt.
Kane ist als reiner Mittelstürmer verschenkt. Wie viel besser er England mit einer etwas freieren Rolle machen würde, bewies schon ein einziger langer Ball nach rund einer Stunde auf Saka, der die beste Chance des zweiten Durchgangs einleitete.
"Ich weiß, dass es zu Hause wahrscheinlich viel Lärm und ein wenig Enttäuschung geben wird", prophezeite Kane nach dem Abpfiff und warf dann einen Blick in die Vergangenheit. Auch bei der EM 2021 seien die Engländer schwer ins Turnier gekommen und wurden nach einem 0:0 im zweiten Spiel gegen Schottland bereits angezählt. "Dann sind wir ins Finale gekommen." England hofft, dass sich Geschichte wiederholt. Es ist schon jetzt das Klammern an den berühmten letzten Strohhalm.