Bundestrainer vor EM-Auftakt Julian Nagelsmann - der "junge Aushilfskanzler"
Bundestrainer Julian Nagelsmann geht mit der Nationalmannschaft bei der Fußball-EM 2024 in sein erstes Turnier. Er soll den deutschen Fußball aus dem Tief holen und dem Land ein paar beschwingte Wochen schenken. Eine sehr große Aufgabe für den "jungen Aushilfskanzler".
Er war mal "der 28-Jährige". So wie Boris Becker "der Leimener" und Muhammad Ali "der Größte" war. "Der 28-Jährige", das war ein Zeichen der Bewunderung, aber auch der Verwunderung.
Cheftrainer bei der TSG Hoffenheim
Julian Nagelsmann hatte mit der TSG Hoffenheim schnellen Erfolg, er bewahrte die Mannschaft vor dem Abstieg, weil er mit attraktivem Fußball Punkte sammelte. Das war ein frischer Ansatz, ganz anders als bei Vereinen, die in solchen Situationen Friedhelm Funkel anrufen.
Allerdings musste Nagelsmann auch nicht geholt werden, er wurde wegen einer Erkrankung von Huub Stevens nur etwas früher zum Trainer der TSG, die ihn schon vorher, im Oktober 2015, zum Nachfolger auserkoren hatte. So war er ein knappes halbes Jahr "der 28-Jährige", der seine teilweise deutlich älteren Spieler überzeugte und jedem zeigte, dass er auch von sich sehr überzeugt ist.
Schon früh scheint klar: Nagelsmann ist einer für die Topklubs
Er würde bestimmt mal den FC Bayern trainieren, und dann vermutlich auch einen großen Klub in England und irgendwann Real Madrid. Das wurde schnell gesagt, und es bewahrheitete sich auch früh, zumindest die Prognose mit dem FC Bayern.
Als er aus Leipzig kam und in München anfing, war er "der 33-Jährige". Aber so nannte ihn niemand mehr. Er war nun der, der Titel schaufeln musste. Es wurde nur einer, die damals noch obligatorische Meisterschaft. In der Champions League kam das Aus gegen den kleinen FC Villarreal, im DFB-Pokal gab es ein 0:5 bei Borussia Mönchengladbach.
Machtkampf mit Manuel Neuer
Nagelsmann fuhr mit dem Longboard auf dem Trainingsgelände der Bayern herum und einfach in den kurzen Skiurlaub, als die Luft an der Säbener Straße und am Tegernsee im Hause Hoeneß richtig brannte. Das war es dann für den damals 35-Jährigen, der es zudem gewagt hatte, in einen Machtkampf mit dem mächtigen Torwart Manuel Neuer zu ziehen.
Neuer ist der einzige Spieler im Kader der deutschen Nationalmannschaft für die EM 2024, der älter ist als Nagelsmann. Er wird am Freitag (14.06.2024) im Eröffnungsspiel gegen Schottland im Tor stehen. Daran ließ Nagelsmann nie einen Zweifel.
So meidet er Störfeuer, die vielleicht auch Mats Hummels und Leon Goretzka hätten legen können. Aber die wurden gar nicht erst eingeladen oder nachnominiert.
Nagelsmann ist vorsichtiger geworden
Nagelsmann ist vorsichtiger geworden seit der Zeit in München, wo er 2021 bis 2023 Cheftrainer war. Das sagen Beobachter, die ihn in Leipzig (2019 bis 2021) erlebt hatten als einen, der als cool galt, weil er mit der Vespa zum Geldautomaten fuhr und mit dem E-Skateboard zum Training. Die Jacke, die Nagelsmann im Spiel der deutschen Mannschaft gegen die USA trug, war das bislang letzte Accessoire, das für ein wenig Aufsehen sorgte.
Die Partie in den USA war sein Debüt als DFB-Coach. Acht Monate sind seitdem exakt vergangen, wenn im EM-Eröffnungsspiel am Freitagabend gegen Schottland gespielt wird. Es war ein wilder Ritt durch Nominierungen, Spiele, Taktiken und Umstellungen. Nach der Niederlage in Österreich schien ein Verzicht auf das Turnier im eigenen Land eine mehrheitsfähige Option, nach der Rückkehr von Toni Kroos und den Siegen in Frankreich und gegen die Niederlande wurde plötzlich nur noch von Euphorie gesprochen.
Das große Ziel: Die Fans begeistern
Nagelsmann, "der 36-Jährige", sagt, dass er die Fans begeistern möchte mit attraktivem Fußball, der dann noch ein bisschen wichtiger sei als zwei Punkte, die es für einen Sieg mehr gibt als für ein Unentschieden.
Politik sollen andere machen
Der Bundestrainer, der seine Spieler früher gerne mal bewusst überforderte, um es im Spiel entsprechend leichter werden zu lassen, will alles ein bisschen einfacher halten, konzentriert sich auf den Fußball. Er will nichts überhöhen. Politik, das ist auch die Linie des Deutschen Fußball-Bundes, sollen andere machen.
Aber, das sagte auch Toni Kroos: "Wir sind in den kommenden Wochen ein bisschen verantwortlich für die Stimmung im Land". Es hat sich etwas gedreht, aber nicht so, wie Herbert Grönemeyer das in seinem Lied für die WM 2006 beschworen hat.
EM 2024 soll für Freude sorgen in düsteren Zeiten
Ein Krieg hier, einer dort, Inflation, eine in Teilen gesichert rechtsextremistische Partei, die in einem großen Teil Deutschlands zur Volkspartei geworden ist: Die Zeitenwende, von der Bundeskanzler Olaf Scholz sprach, als Russland die Ukraine überfiel, verspricht das Gegenteil von Euphorie.
Die EM soll ablenken, für ein paar beschwingte Wochen sorgen im Sommer, der auch noch lange keiner ist. Die Verantwortung dafür liegt hauptsächlich bei Julian Nagelsmann, dem Bundestrainer und "Aushilfskanzler", dem "36-Jährigen".