"Schweigen ist nicht genug" Iranische Aktivistin erwartet mehr von Nationalspielern
Bei der iranischen Nationalhymne im ersten WM-Spiel gegen England sangen die Nationalspieler des Irans. Eine Aktivistin vor Ort in Doha hatte sich mehr erhofft.
Die iranische Nationalmannschaft sorgte vor ihrem ersten Spiel bei der Fußball-WM gegen England für Aufsehen, weil die Spieler bei der Nationalhymne stumm blieben. Das wird als Zeichen des Protests gegen das iranische Regime gewertet.
Im Iran wird seit September für Frauenrechte und gegen das Regime protestiert. Die Einsatzkräfte gehen hart gegen die Demonstranten vor. Laut Human Rights Watch sind bisher mehrere hundert Menschen gestorben.
Kritik aus dem Iran
"Für mich und viele andere Iraner war es eine PR-Aktion", sagt eine iranische Aktivistin über das Verweigern der Hymne. Sie ist Teil der Frauenrechts-Bewegung "Open Stadium", die sich unter anderem dafür einsetzt, dass iranische Frauen Stadien besuchen dürfen. Sportschau hat sie in Doha getroffen. Um ihre Identität zu schützen, nennen wir nicht ihren richtigen Namen. Für diesen Artikel nennen wir sie Sara.
"Menschen außerhalb des Irans haben es als heroisch empfunden. Das ist für mich okay, solange es Menschen dafür sensibilisiert, was im Iran passiert. Aber es war nicht heroisch", sagt Sara. Nachdem sich bereits andere Sportlerinnen und Sportler in der Öffentlichkeit solidarisch gezeigt hätten, habe man mehr erwartet, als nur zu schweigen. "Wir sehen jeden Tag, wie junge Leute und Kinder sterben. Die Aktion sollte dem Gewicht des Ereignisses entsprechen. Bei der Hymne zu schweigen ist nicht genug."
Aktivistin hatte sich mehr erhofft
"Sie hätten mit den Autoritäten sprechen können: ‚Hört auf mit dem Töten!‘ Aber das haben sie nicht gemacht", sagt Sara. Sie wünscht sich eine klare Haltung der Athleten gegenüber dem Regime. Viele Spieler stehen bei Vereinen außerhalb des Irans unter Vertrag, kehren nach der WM also nicht in ihre Heimat zurück. Anderen wirft sie eine regimenahe oder zumindest regimetolerante Haltung vor.
Konsequenzen für die iranischen Nationalspieler erwartet sie kaum. "Ihr seid Stars, nichts würde euch passieren. Sagt etwas. Vielleicht würdet ihr kurz festgenommen werden, aber ihr wärt auch schnell wieder frei", appelliert die Aktivistin für das Eintreten von Menschenrechten.
Vorwurf der Scheinheiligkeit
Auch andere Nationen, zum Beispiel Deutschland, nimmt sie in die Verantwortung. Nicht nur in Bezug auf die Proteste im Iran. "In Ländern, in denen Menschenrechte normal sind, wird gesagt, man stehe für diese Werte. Aber wenn sie in andere Länder kommen, dann sagen sie ‚Wir kommentieren politische Diskussionen nicht‘. Dann halten sie sich den Mund zu. Es ist genauso scheinheilig, wie wenn iranische Spieler die Hymne nicht mitsingen."
Sie verweist auf die Aktion der DFB-Elf bei ihrem WM-Auftakt gegen Japan. Die Spieler hatten sich beim Teamfoto den Mund zugehalten, nachdem ihnen das Tragen der One-Love-Binde verboten wurde. Ein Zeichen, dass die FIFA sie nicht zum Schweigen bringen könne zum Thema Menschenrechte. "Man muss nicht so tun, als wollte man etwas sagen, aber man wurde nicht gelassen. Spendet an entsprechende Organisationen der benachteiligten Communities. Es ist so einfach. Damit bewegt man viel."
Sorge um Fans
Anders als bei den Spielern macht sich Sara große Sorgen um iranische Fans. Bereits vor der WM forderte "Open Stadium" den Ausschluss des iranischen Teams, schrieb einen offenen Brief an Infantino. Zum einen wegen der Menschenrechtsverletzungen im Iran. Zum Anderen aus Sicherheitsbedenken in Katar. Eine Reaktion des FIFA-Präsidenten bekamen sie nicht.
Beim WM-Auftaktspiel gegen England beobachtete Sara mehrere Männer, die "auf komische Weise" ausschließlich iranische Fans filmten. Sie vermutet, dass Undercover-Einsatzkräfte aus dem Iran hier Beweise über Protestierende sammeln sollen. "Wenn ein Fan hier beim Protestieren gefilmt wird und in den Iran zurückkehrt, gehen sie direkt ins Gefängnis – und das ist das Best-Case-Szenario." Viele der sich öffentlich zeigenden Protestierenden seien Iranerinnen und Iraner, die mittlerweile im Ausland leben, meint Sara.
Enge Verbindungen zwischen Katar und Iran
Ein Einschreiten Katars erwartet sie nicht. Katar und der Iran haben enge diplomatische Verbindungen. Als zwischen 2017 und 2019 Saudi Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain und Ägypten Katar diplomatisch und wirtschaftlich blockierten, war der Iran ein wichtiger Partner, um weiterhin Waren ins Emirat einzuführen.
"Ich fühle mich nicht sicher in Katar. Man weiß nie, wo Agenten aus dem Iran sind", so Sara. Andere Golfstaaten, inklusive Katar hätten kein Interesse daran, den Konflikt im Iran zu lösen - aus Angst Menschenrechtsbewegungen könnten überschwappen.
WM ist Fluch und Segen zugleich
Dass die WM in Katar stattfinde, habe trotzdem einen großen Vorteil: "Das gute an dieser WM in Katar ist, dass viele Journalisten das Gefühl haben, wenn sie nicht über Menschenrechts-Themen rund um diese WM berichten, dass sie dann ihren Job nicht richtig gemacht haben. Bei anderen WM-Turnieren war das anders, da ging es nur um Fußball."
Der Fußball bringe international eine enorme Aufmerksamkeit. "Millionen Menschen schauen die WM, man kann viel erreichen, wenn man zeigt, was falsch läuft", sagt Sara. Doch auch hier gäbe es eine Schattenseite. Alle Aufmerksamkeit richte sich auf den Fußball, auf die nicht-singende Nationalmannschaft, nicht jedoch auf das "Massaker" an sich.