Nach Vogts Wutausbruch Ein Lehrstück über das Dilemma der Teamärzte
Kevin Vogt ist außer sich, zerrt sich wütend das Trikot vom Leib. Es läuft die 53. Minute im Bundesligaspiel seiner TSG Hoffenheim beim FC Augsburg am Freitagabend (17.02.2023). Vogt wird ausgewechselt - auf Anraten des Team-Arztes und ganz offensichtlich gegen seinen Willen.
Es ist eine Szene mit Seltenheitswert - und eine Szene wie aus einem Lehrbuch für Teamärztinnen und -ärzte. Denn Hoffenheims Mediziner Dr. Ralph Kern agierte so, wie es stets gepredigt wird: Er ließ bei einer Kopfverletzung Vorsicht walten.
Vogt hatte im Strafraum die Hand des Augsburgers Kelvin Yeboah auf die Nase bekommen. Die Szene führte dazu, dass Schiedsrichter Patrick Ittrich das im Anschluss gefallene Augsburger Tor durch Ermedin Demirovic nach Videobeweis zurücknahm.
Matarazzo spricht von "später Info" durch den Doc
Der Nasen-Treffer sah zwar nicht übermäßig heftig aus, aber Vogt blieb lange liegen und wirkte anschließend benommen. Bei solchen Kopftreffern entscheiden die Teamärzte, ob ein Spieler fit genug ist fürs Weiterspielen. Kern entschied sich dagegen - was Hoffenheims Trainer Pellegrino Matarazzo nach eigener Aussage erst mit Verspätung mitbekam.
Angesprochen auf Vogts Reaktion sagte Pellegrino: "Er wollte rein, ich wollte auch, dass er reingeht. Dann haben wir spät die Info bekommen vom Doc, dass er nicht reindarf. Diese Info war schon an den Schiedsrichter kommuniziert. Dann war es klar, dass er nicht wieder rein darf. Der Doc hat entschieden, dass es zu gefährlich ist."
Lebensgefährliche Folgen möglich
Ein Vorwurf an Kern lässt sich aus dieser Aussage zwar nicht ableiten, aber Pellegrino verpasste auch die Gelegenheit, seinem Mediziner angesichts der heftigen Reaktion von Vogt beizuspringen. Die Thematik ist sensibel, weil Teamärzte immer auch dem Ehrgeiz und Erfolgsdruck ihrer Klubs ausgesetzt sind - und ihre Entscheidungen womöglich rechtfertigen müssen.
Kern antwortete am Samstag auf eine Sportschau-Anfrage: "Bei Kevin Vogt gab es klare Anzeichen einer Gehirnerschütterung. Das schließt einen weiteren Einsatz aus. Dass ein Spieler dies zunächst nicht wahrhaben möchte, ist eine bekannte Reaktion, der man als Arzt widerstehen muss."
Kern: "Man muss die Spieler auch vor sich selbst schützen"
In diesen Situationen müsse man die Akteure auch vor sich selbst schützen, sagte Kern. "Die Gesundheit steht an erster Stelle. Die Kommunikation läuft sowohl mit dem Trainer- und Betreuerteam sowie in Richtung der Schiedsrichter."
Kopfverletzungen sind mit besonderer Vorsicht zu behandeln, weil eine erneute Erschütterung eines angeschlagenen Gehirns lebensgefährliche Folgen haben kann. Mehrere Regelanpassungen aus den vergangenen Jahren sollten die Gefahr minimieren, dass angeschlagene Profis weiterspielen. Dass Teamärzte eine Auswechslung auch ohne Zustimmung von Trainer und Spieler veranlassen dürfen, ist eine davon.
Zusätzlicher Wechsel bei Kopfverletzungen möglich
Außerdem erlaubt das für Regelfragen zuständige IFAB (International Football Association Board) seit Januar 2021 zusätzliche Auswechslungen bei Kopfverletzungen. Die Deutsche Fußball Liga (DFL) verzichtet auf diese Option, weil mittlerweile ohnehin fünf statt drei Wechsel möglich sind. Die Theorie: Die Entscheidung für einen vorsorglichen Wechsel fällt leichter, weil dieser weniger ins Gewicht fällt.
In der Praxis gibt es aber weiterhin Fälle, bei denen angeschlagene Spieler wieder aufs Feld kommen und erst im Nachhinein eine Gehirnerschütterung festgestellt wird. Die Ärzte haben zwar bei Kopftreffern mittlerweile drei Minuten Zeit für Behandlung und Diagnose. Das reicht nach Ansicht von Experten aber nicht, um eine Gehirnerschütterung sicher ausschließen zu können.
Temporäre Wechsel gefordert
Eine mögliche Lösung wären temporäre Wechsel. Erst im Januar hatten die internationale Spielergewerkschaft FIFPRO und der Weltverband der Ligen WLF eine Testphase gefordert, in der am Kopf getroffene Spieler vorübergehend ausgewechselt werden könnten.
Auch der DFB befürwortet diese Regel schon länger. "Die Ärzte hätten die Möglichkeit, den Spieler für zehn oder 15 Minuten auszuwechseln, mit in die Kabine zu nehmen, in Ruhe zu untersuchen und dann die Entscheidung zu treffen: Kann er wieder eingewechselt werden oder bleibt er draußen", sagte Claus Reinsberger im Oktober 2021 der Sportschau. Der Sportmediziner von der Universität Paderborn ist in der Medizinischen Kommission des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) Experte für das Thema Gehirnerschütterungen.
IFAB setzt weiter auf dauerhafte Wechsel
Allerdings lehnte das IFAB Mitte Januar eine Testphase ab und blieb bei seinem Standpunkt, dass zusätzliche dauerhafte Wechsel die bessere Lösung seien. Schließlich könnten bei Gehirnerschütterungen einige Symptome auch erst nach 72 Stunden auftreten.
Im Zweifel sollten sich die Ärzte immer für eine Auswechslung entscheiden - so zumindest die Theorie. Hoffenheims Ralph Kern hat diese in die Tat umgesetzt. Wie heikel das allerdings sein kann, war am Freitagabend in Augsburg anschaulich zu sehen.