Special Olympics in Berlin Ist das Wettbewerb, oder was?
Was steht bei den Special Olympics World Games denn nun im Vordergrund: sportliche Leistungen und Erfolge oder das Event samt interkulturellem Austausch und Sichtbarmachen der Athletinnen und Athleten selbst? Reporter Uri Zahavi hat sich auf die Suche nach einer Antwort gemacht und gemerkt: Vielleicht ist keine Antwort ja die richtige.
Ich berichte als Fernseh-, Social-Media- und Online-Reporter von den Special Olympics World Games in Berlin - und ich bin innerlich zerrissen. Das schon mal vorneweg. Jedes Mal, wenn ich jemandem von meinem Job bei den Weltspielen erzähle, höre ich sehr schnell eine Frage mit dem deutlichen Unterton: "Du, wie ernst kann man das Event sportlich eigentlich nehmen?" Oder: "Wie viel Wettkampf steckt denn in den Specials drin?" Oder: "Geht’s da nicht eigentlich nur um den interkulturellen Austausch und Inklusion … und der Sport ist völlig Wurst?"
Jubel bei Kraftdreikämpfer Danilo Pasnicki nach dem Bankdrücken mit Trainer Florian Crusius. Im Hintergrund freut sich Dreikampf-Cheftrainer Enrico Häfner.
Bei Siegerehrungen werden alle gefeiert
Der Kern der Frage ist – natürlich immer unter Berücksichtigung der Formulierung – legitim. Und jetzt komme ich zu meiner Zerrissenheit, beziehungsweise meinem Problem. Meine Antwort lautet bislang konsequent: "Ich weiß es nicht." Auf der einen Seite nehme ich hier von der ersten Sekunde an positive Schwingungen, eine herzliche Atmosphäre und einen – im besten aller Sinne – größtenteils "freundschaftlichen" Wettbewerb wahr.
Oft freut sich auch der Letztplatzierte über seine Teilnehmerschleife (die alle Nicht-Medaillengewinner bekommen) und feiert die Siegerin oder den Sieger. Ich habe von einem Kollegen eine Situation beschrieben bekommen, in der eine Leichtathletin ihre Goldmedaille gegen eben jene Teilnehmerschleife der Achtplatzierten tauschte, weil sie diese schöner fand. Es ist ein harmonisches Miteinander, das ich bei einer Sportveranstaltung in dieser Form noch nie erlebt habe.
Wettbewerb statt Wettkampf
Auf der anderen Seite höre ich immer wieder – die Athletinnen und Athleten wollen nicht auf diese guten Vibes reduziert werden. Sie haben jahrelang hart für die Weltspiele trainiert und wollen auch an ihren sportlichen Leistungen gemessen und für diese gewürdigt werden. "Es geht um alles", sagt Björn von Borstel, Competition-Leiter der Leichtathletik-Wettbewerbe und ergänzt. "Es ist eine Mischung aus allem. Es sind vielleicht 50 Prozent Sport und 50 Prozent alles andere."
Schon früh habe ich hier gelernt, ich solle das Wort "Wettkampf" in der Berichterstattung nicht benutzen – sondern stattdessen von "Wettbewerb" sprechen. Man würde bei den Special Olympics World Games schließlich nicht gegeneinander um Medaillen kämpfen. Einen offiziellen Medaillenspiegel gibt es nicht.
"Wir klatschen uns ab, dann geht es mir besser"
"Es steckt schon Wettbewerb dahinter", sagt Pauline Clauß. Die 29-Jährige tritt im Beachvolleyball an. Beachvolleyball wird als sogenannter "Unified Sport" ausgetragen. Das heißt, Menschen mit und ohne Beeinträchtigung bilden ein Team. Pauline ist Unified-Partnerin, lebt also ohne Beeinträchtigung. "Wir wollen hier auch eigentlich mit einer Medaille rausgehen und irgendwie gewinnen. Natürlich spielt Erfolg eine Rolle. Wenn man immer nur verliert, macht’s auch weniger Spaß."
Trotzdem sei Edelmetall natürlich nicht die Hauptmotivation. Die sei nach wie vor der Spaß, fügt Pauline an. Und den bringen "auch tolle Ballwechsel und Spielzüge", und nicht nur Siege. Kaya Schöbel spielt ebenfalls in einem der deutschen Teams Beachvolleyball – sie ist geistig beeinträchtigt. Für die 22-Jährige ist klar: Das Team gewinnt und verliert zusammen. Wenn es mal nicht so gut läuft, "dann klatschen wir uns einmal ab und im Anschluss geht es mir sofort besser".
Objekt der Begierde, aber nicht immer das Maß aller Dinge – eine Goldmedaille bei den Special Olympics World Games.
Ähnlich geht es übrigens auch Kevin Waskowksy. Der 27-Jährige spielt in der deutschen Hockey-Auswahl. Nach einer Niederlage richtet sich sein Blick nach vorne, aber auch zur Seite: "Ich finde es so toll, wie uns die Menschen im Publikum hier angefeuert haben. Wir haben jetzt zwar nicht gewonnen, aber ich würde mir wünschen, dass wir das dann einfach beim nächsten Spiel schaffen."
Diskussionsthema Klassifizierung
Ich glaube, eine der großen Schwierigkeiten bei der Bewertung der Bedeutung des sportlichen Erfolges ist die riesige Bandbreite an unterschiedlichen Fähigkeiten der Athletinnen und Athleten. Bei der sogenannten "Klassifizierung" im Vorfeld der Special Olympics World Games wurden sie von ihren Trainern in ein Skill-Level eingestuft. Bei den Weltspielen selbst folgte dann eine Überprüfung dieser Einschätzungen durch ein offizielles Schiedsgericht – im Anschluss wurden die Teilnehmer dann in Kleingruppen eingeteilt. In diesen wird dann um die Medaillen konkurriert.
Menschen mit ähnlichen Fähigkeiten treten also gegeneinander an. Das soll den Wettbewerb möglichst gerecht gestalten. So weit, so fair. Was im Gegensatz dazu nun überhaupt nicht fair ist: Nationen, die versuchen, ihre Athletinnen und Athleten bewusst niedriger einzustufen, um so die Chancen auf eine Medaille zu erhöhen. Auch das kommt bei den Special Olympics World Games vor. Aber "das sind von 190 Delegationen, die hier an den Start gehen, maximal eine Handvoll", relativiert Björn von Borstel. Solche Betrugsversuche ziehen rigorose Konsequenzen nach sich – bis hin zur Disqualifizierung.
"Warum soll ein Special-Olympics-Athlet keine Prämie bekommen?"
Die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung der sportlichen Leistungen wirkt auf mich bei diesen Weltspielen eklatant. Während sich die Sportlerinnen und Sportler größtenteils schnell mit ihrem Ergebnis arrangieren, scheinen Trainer und Verbände wiederum vereinzelt durchaus großen Wert auf Erfolge zu legen. Von aufgebrachten Coaches am Spielfeldrand über Verbände, die sogar Prämien für Medaillen ausloben und so natürlich den Druck massiv erhöhen, ist alles dabei.
Wobei, auch dazu gibt es unterschiedliche Sichtweisen. "Es ist das Normalste der Welt, wenn Athletinnen und Athleten eine Medaille holen, dass es da eine Honorierung gibt. Warum denn nicht?", meint Björn von Borstel. "Es sind gleichberechtigte Menschen wie du und ich. Wenn wir in der Leichtathletik an den Start gehen und holen bei Olympia Gold, gibt’s dafür vielleicht 5.000 Dollar: Warum soll das ein Special-Olympics-Athlet nicht bekommen?"
Die Magie dieser Veranstaltung
Also "wie viel Wettbewerb steckt in den Special Olympics World Games?" Ich werde mich damit abfinden müssen, keine definitive Antwort und vielleicht auch keine definitive Haltung darauf zu erlangen. Aber ich habe bei diesen Spielen gelernt: Es ist überhaupt nicht schlimm. Ich habe in so viele glückliche Gesichter geschaut, so viel Empathie erlebt. Tatsächlich sind bei den Special Olympics World Games alle Siegerinnen und Sieger.
"Guck dir das Champions-League-Finale im Fußball an", ordnet Björn von Borstel abschließend ein. "Der Verlierer kriegt die Medaille um den Hals gehängt und nimmt sie sofort wieder ab. Oder er lässt sie sich gar nicht umhängen. Bei uns freut sich auch der Achte über seine Teilnehmerschleife. Da frage ich mich: Welche Emotion ist ausdrucksstärker?" Und genau das ist die Magie dieser Veranstaltung – egal ob mit oder ohne sportlichem Erfolg.
Der Zeitplan der Special Olympic World Games in Berlin auf einen Blick.