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Missstände im deutschen Turnen Neue Vorwürfe: Die Salami-Taktik des Deutschen Turner-Bunds
Nach den Missbrauchs-Vorwürfen will sich der DTB am Freitag drängenden Fragen stellen. Derweil werden neue Anschuldigungen gegen Nachwuchs-Bundestrainerin Claudia Schunk bekannt.
Es gibt viel Redebedarf rund um die Untersuchung und Aufarbeitung der Missstände im deutschen Turnen. Eine digitale Konferenz jagt die nächste. Sportlerinnen, Trainer, Eltern, Ministerien, Stützpunkte, Ermittlungsbehörden und Anwälte - sie alle haben viele Fragen an den Deutschen Turner-Bund (DTB).
Auch die Medien sind neugierig. SWR Sport schickte dem DTB am Montag (17.02.) einen Fragenkatalog mit der Bitte um Stellungnahme. Eine Reaktion gibt es bis heute nicht. Stattdessen versandte der DTB am Tag nach der Anfrage eine Einladung zu einer Medienrunde. Der SWR, der in den vergangenen Wochen die Vorgänge im Turnen und die Rolle der Verbände kritisch begleitet hatte, erhielt diese Einladung nicht.
Medienrunde mit DTB-Spitze
Am Freitag (21.2.) wollen DTB-Präsident Alfons Hölzl, Sportvorstand Thomas Gutekunst und Frauen-Cheftrainer Gerben Wiersma am Rande des Turn-Weltcups in Cottbus Stellung beziehen zu den gewichtigen Vorwürfen, die das deutsche Turnen seit zwei Monaten erschüttern. Ehemalige Spitzenturnerinnen hatten "systematischen körperlichen und mentalen Missbrauch" am Stützpunkt in Stuttgart angeprangert. Wenig später machte Deutschlands Rekordturnerin Elisabeth Seitz im SWR ihre negativen Erfahrungen am Stützpunkt Mannheim unter der heutigen Nachwuchs-Bundestrainerin Claudia Schunk erstmals öffentlich.
Der Schwäbische Turnerbund (STB) hatte auf die Vorwürfe mit der mündlichen Kündigung einer Trainerin und eines Trainers reagiert. Der DTB beauftragte eine Untersuchung durch die Frankfurter Kanzlei Rettenmaier und plant zudem eine unabhängige Aufklärung durch eine Experten-Kommission.
Sportministerium sieht Voraussetzungen für Aufarbeitung nicht erfüllt
Doch das Vertrauen vieler Turnerinnen in den Aufklärungswillen des DTB geht gegen Null. In einem offenen Brief äußerten ehemalige Spitzenturnerinnen Zweifel an der Unabhängigkeit der geplanten Untersuchung. Am vergangenen Freitag (14.02.) wollte der DTB eine Stellungnahme hierzu veröffentlichen. Doch dazu kam es nicht.
Vielleicht hatte die vom Sportministerium BW initiierte Videokonferenz, die an jenem Vormittag mit DTB, dem STB, dem Landessportverband BW und der Kanzlei Rettenmaier stattfand, die Verantwortlichen in der Frankfurter Turn-Zentrale ihre Vorgehensweise überdenken lassen. Schließlich fand Daniel Hager-Mann, Ministerialdirektor des für den Sport zuständigen Landesministeriums, klare Worte hinsichtlich der Aufarbeitung durch den DTB: "Jede Person oder Institution, die die Geschehnisse untersuchen und Vorschläge für eine künftige verbesserte Struktur erarbeiten soll" sei nur dann für diese Aufgabe geeignet, "wenn sie auch vom Vertrauen und der Akzeptanz der Athletinnen getragen wird".
Diese Voraussetzungen sieht das Sportministerium BW, das den Sport unter dem Dach des STB jährlich mit 1,6 Millionen Euro fördert, bis jetzt als nicht erfüllt an.
Die schwierige Suche nach einem neuen Spitzentrainer
SWR Sport schickte der Kanzlei Rettenmaier einen Fragenkatalog zur kritisierten Zusammenarbeit mit dem DTB. Eine Antwort blieb aus. Der DTB scheint trotz der deutlichen Kritik nicht von der Auftragsvergabe an die Kanzlei Rettenmaier abrücken zu wollen. Bis April oder Mai soll die Kanzlei ihre Untersuchungsergebnisse in einem Bericht vorlegen. Währenddessen arbeitet der DTB an einer Zusammenstellung einer Aufklärungs-Kommission, die diese Ergebnisse analysieren soll. Erste Gespräche mit Fachleuten und Einrichtungen wurden bereits geführt.
Parallel dazu suchen DTB und STB händeringend nach neuem Fachpersonal für den Bundesstützpunkt in Stuttgart. Der STB hatte die Zusammenarbeit mit einer Trainerin und einem Trainer nach Bekanntwerden etlicher Vorfälle beendet. Nach SWR-Informationen bemühten sich die Verbände vor allem um den US-Amerikaner Daymon Jones. Der vom Tanz kommende Jones, der zuletzt - gemeinsam mit seinem Lebensgefährten, dem Niederländer Patrick Kiens - erfolgreich als Nationalcoach Österreichs und Rumäniens tätig war, soll zuletzt für einen kurzen Zeitraum probeweise am Kunstturnforum in Stuttgart gearbeitet haben. Doch offenbar fanden beide Seiten nicht zueinander. So steht Olympia-Teilnehmerin Helen Kevric ohne ihren vertrauten Trainerstab da. Rekordturnerin Elisabeth Seitz muss aktuell auf ihren erkrankten Coach Robert Mai verzichten.
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War Daymon Jones Trainer-Kandidat in Stuttgart?
Neue Vorwürfe gegen Nachwuchs-Bundestrainerin Claudia Schunk
Nachwuchs-Bundestrainerin Claudia Schunk, die im Januar für zwei Wochen als Ersatztrainerin in Stuttgart eingesetzt wurde, kümmert sich längst wieder um den weiblichen Turn-Nachwuchs. Für den DTB scheint es unerheblich zu sein, dass in den vergangenen Wochen schwere Vorwürfe gegen die Trainingsmethoden Schunks während ihrer Tätigkeit als Leiterin des Stützpunkts in Mannheim öffentlich wurden. Die 52-Jährige, seit April 2017 verantwortlich für den weiblichen DTB-Nachwuchs, leitete erst jetzt wieder zwei Nachwuchskader-Lehrgänge in Frankfurt.
Im Vorfeld dieser Lehrgänge hatte sich der DTB vorsichtshalber mit einem Schreiben vom 7. Februar 2025 an die Trainerinnen und Trainer der Kader-Athletinnen gewandt. Man gehe den Vorwürfen gegen Schunk nach und werde diese aufarbeiten, heißt es darin. Doch: "Nach sorgfältiger Prüfung sehen wir zum jetzigen Zeitpunkt keinen Grund, die anstehende Kadermaßnahme nicht durch sie betreuen zu lassen."
Das Schreiben, das von Eva Reinschmidt, der Safe Sport-Referentin des DTB, aufgesetzt und verschickt wurde, verweist darauf, dass die vorliegenden Vorwürfe sich "auf einen Zeitraum vor ihrer Anstellung als Bundestrainerin Nachwuchs im DTB" beziehen würden.
Claudia Schunk: Weinende Kinder im Turnkader unerwünscht
Was Reinschmidt nicht erwähnt: Es gibt Anschuldigungen gegen Schunk auch aus deren Zeit als Nachwuchs-Bundestrainerin. Diese Vorwürfe liegen dem DTB auch vor. Am 9. Januar 2025 berichtete Beate Plenge, Mutter der Nachwuchsturnerin Ida Plenge (sie trainierte damals am Leistungszentrum in Krefeld), den DTB-Verantwortlichen von Missständen, die es im November 2018 während eines Bundeskader-Tests in Frankfurt gegeben habe. Die Leitung hatte Nachwuchs-Bundestrainerin Claudia Schunk.
Die Mutter der damals elfjährigen Turnerin schrieb an den DTB: "Ida hat sich an dem Tag den Zeh am Balken verletzt, aber dennoch versucht, weiter zu turnen. Als es nicht mehr ging und der Zeh blau wurde, hat sie sich bei Trainerin und Frau Schunk gemeldet." Schunks Reaktion sei gewesen: Ida solle sich nicht anstellen und aufhören zu heulen. Im Kader wolle man keine weinenden Kinder haben.
Als Beate Plenge später die Nachwuchs-Bundestrainerin auf diese verstörende Reaktion schriftlich hinwies, antwortete Schunk lapidar: "Ich habe Ihre Anmerkung zur Kenntnis genommen." Der gesamte Mailverkehr liegt unserer Redaktion vor. Plenge berichtete dem DTB weiter, dass im Krankenhaus festgestellt wurde, dass Idas Zeh gebrochen sei. "Der Zeh musste zwei Mal operiert werden, Ida musste drei Monate mit Krücken laufen."
Als Reaktion auf Plenges Schilderungen antwortete der DTB: "Wir bedauern, dass Ida diese negativen Erfahrungen gemacht hat. Wir (…) werden diese in unserem anstehenden Aufarbeitungsprozess berücksichtigen (…)." Trotzdem schrieb Safe Sport-Referentin Reinschmidt wenige Wochen später den Nachwuchs-Trainerinnen, die Vorwürfe gegen Schunk bezögen sich nicht auf ihre Zeit als Bundestrainerin Nachwuchs.
Nutzt der DTB die Chance einer umfassenden Aufklärung?
Bei der Medienrunde am Freitag in Cottbus hat der DTB die Chance, die Öffentlichkeit umfassend zu informieren und verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen. Die bisherige Form der Kommunikation erinnert eher an eine Salami-Taktik. Nur scheibchenweise scheinen die DTB-Verantwortlichen die Karten auf den Tisch zu legen.
Verständlich, dass der Turnverband den Wunsch an die Journalisten richtet, in Cottbus Fragen zu den Missständen im deutschen Turnen nur während der Medienrunde zu stellen. Turnerinnen und Turner sowie die deutsche Delegation sollten mit diesen Themen nicht behelligt werden. Doch das Leben ist kein Wunschkonzert. Das mussten viele Turnerinnen in den vergangenen Jahren leidvoll erfahren.
Sendung am Do., 20.2.2025 18:40 Uhr, SWR1 Baden-Württemberg