![Marathon Siegessäule | IMAGO / Andreas Gora Marathon-Teilnehmende laufen entlang der Berliner Siegessäule. (Foto: IMAGO / Andreas Gora)](https://images.sportschau.de/image/afd0acfd-0fd3-4171-9980-e60fd3cf2d29/AAABlPaRcVE/AAABkZLrr6A/original/rbb-marathon-siegessaeule-100.jpg?overlay=fed2b0f9-111a-4432-99ab-1c3fb121cf2f&overlayModificationDate=AAABjb04dkw)
Interview | Sportpsychologe Sportpsychologe Kleinert: "Natürlich haben soziale Plattformen Einfluss auf das Sportverhalten"
Der Ausdauersport erfreut sich derzeit großer Beliebtheit. Sportpsychologe Jens Kleinert erklärt die mentalen Vorteile, warum Menschen in der "Quarter-Life-Crisis" eher einen Marathon laufen und wie gutes Training funktioniert.
rbb|24: Herr Kleinert, haben Sie in Ihrem Leben bereits an einem Marathon oder Triathlon teilgenommen?
Jens Kleinert: Um Gottes Willen, nein.
Was hat Sie davon abgehalten?
Zum einen habe ich früher andere Sportarten präferiert. Als Handballer habe ich natürlich auch Ausdauertraining gemacht, aber das waren maximal 10- bis 15-Kilometerläufe. Davor war ich Schwimmer - da ist Laufen eh schon fast tabu (lacht). Zum anderen hatte ich mehrere Kreuzbandrisse und einen Schienbeinbruch, sodass es auch gesundheitlich nicht möglich ist.
![Jahn-Sportpark | rbb/Lukas Witte Der Abriss der Haupttribüne des Stadions im Jahn-Sportpark geht voran (rbb/Lukas Witte)](https://images.sportschau.de/image/1cb2f204-ee3a-4b8b-948b-f553b69e035d/AAABlPaRdHk/AAABkZLngyM/1x1-256/rbb-jahn-sportpark-150.jpg)
2024 haben sich 58.000 Läuferinnen und Läufern für den Berlin-Marathon angemeldet – erneut eine Rekordzahl. Generell scheint die Sportart in den vergangenen Jahren einen regelrechten Boom zu erleben. Können Sie sich den Trend erklären?
Ich weiß gar nicht, ob ausgerechnet der Marathonlauf einen Boom erlebt. Generell sind Fitness-Aktivitäten, die freizeitlich organisiert werden können, im Vergleich zu Vereinssportarten auf dem Vormarsch. Daher würde ich nicht sagen, dass der Ausdauersport das exklusiv hat, auch in der Fitnessbranche finden Sie solch steigende Zahlen.
Besonders in der Generation Z, den "Millennials", wird die Teilnahme an einem Marathon oder Triathlon zu einem sozialen Phänomen. Viele Menschen jener Generation entscheiden sich in ihrer "Quarter-Life-Crisis" (25 bis 30 Jahre) recht plötzlich dazu. Woher könnte diese Motivation stammen? Was hat das Alter damit zu tun?
Das hängt insofern mit dem Alter zusammen, dass wir bestimmte Entwicklungsaufgaben in bestimmten Altersgruppen haben. 20- bis 25-Jährigen sind auf der Suche nach sich selbst. Das beginnt zwar schon etwas früher mit 14 bis 17 Jahren, aber besonders dann fragt man sich: Was kann ich? Was kann ich erreichen? Was möchte ich tun? Das ist sowohl beruflich als auch sozial auch körperlich gemeint. Hier kann das Laufen - die Auseinandersetzung mit der eigenen Ausdauer - eine Ausprägung sein, bei der ich erfahre, was ich leisten kann. Aber auch bei anderen Formen des Sports ist diese Altersgruppe sehr stark vertreten. Dahinter steckt das Motiv, sich selbst auszuprobieren und die eigenen Grenzen zu erfahren. Außerdem ist Laufen eine wunderbarer Gruppenaktivität, was für jene Altersgruppe extrem wichtig ist.
Welchen Einfluss spielen womöglich die sozialen Medien bei diesem Trend? Sowohl das Vergleichen mit digitalen Vorbildern als auch die eigene Präsentation?
Bei den sozialen Medien kommt es stark darauf, in welcher Blase man sich aufhält und wie der Algorithmus eingestellt ist. Aber natürlich haben diese Plattformen Einfluss auf das Sportverhalten. Das kann man im Sinne der Inspiration positiv sehen, aber auch negativ, da man sich dadurch womöglich etwas zum Vorbild nimmt, das man eigentlich gar nicht erreichen kann oder will. Viel zu oft dienen sogenannte "Master-Modelle" als Vorbild, also Menschen, die in ihrem Bereich herausragend sind und scheinbar nie scheitern oder eine Hürde überwinden müssen. Die besseren Modelle sind die Coping-Modelle, die zeigen, dass auch andere Menschen Schwierigkeiten haben und Rückschläge erleben ö diese sind aber seltener in den sozialen Medien zu sehen. Das setzt unter Druck - auch im Ausdauersport.
Besonders die jüngsten Generationen sehen sich oft mit dem Thema Selbstoptimierung konfrontiert – also alles aus sich und dem Alltag herauszuholen. Hier passt das Thema Ausdauersport, bei dem es auch im viele Zahlen und Daten geht, doch bestens hinein, oder?
Die Frage ist: Was heißt Selbstoptimierung überhaupt? Das kann ja auch etwas sehr Positives sein, denn das heißt ja erstmal, dass man an sich selbst arbeitet, besser werden will und sich Ziele setzt. Der Begriff ist abseits des allgemeinen Trends erst einmal nicht schädlich. Es liegt ja in uns Menschen, dass wir kompetent sein und uns weiterentwickeln wollen – das befriedigen wir auch über den Sport. Doch wird die Selbstoptimierung krankhaft, indem man beispielsweise trotz Verletzung trainiert oder man Beziehungen oder den Job vernachlässigt, wird sie schädlich. Daher würde ich differenziert mit dem Begriff umgehen.
Ein weiteres Argument für den Ausdauersport könnte sein, dass er im Freien stattfindet - ein klarer Kontrast zum Büro-Alltag vieler. Ist der Lauf- und Radsport auch eine Form des Eskapismus in der Natur?
Die Natur zu erleben, empfinde ich tatsächlich als ein starkes Argument für den Ausdauersport. Es laufen sicher viele oder fahren Fahrrad, weil sie gerne an der frischen Luft sind. Das erlebt man im Fitnesssport eher selten. Darüber hinaus verspürt man dabei mehr Autonomie, zum Beispiel kann man sich seine Strecken selber aussuchen und erlebt einen größeren Freiraum bei der Planung. Es birgt auch eine große Flexibilität, dass man den Sport beinahe überall ausüben kann.
Sie waren Co-Autor der wissenschaftlichen Arbeit "Dem Burnout davonlaufen? Zusammenhänge zwischen beruflicher Bedürfnisbefriedigung, körperlicher Freizeitaktivität und Burnout bei Lehrkräften". Welche Erkenntnisse ergaben sich daraus und sind Sie auch auf andere Berufsgruppen übertragbar?
Sport ist etwas, wenn man es richtig macht, das eine Form von Zufriedenheit und Glück auslöst. Es kann eine kompensierende Möglichkeit zu Jobproblemen und Unzufriedenheit sein. "Burnout" heißt, dass man im hohen Maße unzufrieden ist und seine tiefsten Bedürfnisse wie Kompetenz, Beziehungen oder Autonomie im Job nicht befriedigen kann. Da kann der Sport, in dem ich mich als kompetent und autonom erlebe, helfen. Viele Studien zeigen, dass sportlich aktive Menschen weniger von Burnout betroffen sind, weil sie einen Ausgleich haben. Aber auch Sport kann einen ansonsten vollständig unglücklichen Tag nicht vollständig kompensieren.
![Pyrofackel Energie Cottbus | imago/Fotostand Ein Zuschauer hält einen "Pyro" in die Höhe beim Spiel Erzgebirge Aue gegen Energie Cottbus. (Bild: imago/Fotostand)](https://images.sportschau.de/image/357e46a1-6516-4ef4-a115-c66704e10808/AAABlPaRdyo/AAABkZLngyM/1x1-256/rbb-pyrofackel-energie-cottbus-100.jpg)
Viele Menschen gehen eher unbedarft an einen Marathon oder Triathlon heran. Welche Tipps würden Sie in der Trainingssteuerung und Ernährung geben, um einerseits das Optimum aus sich herauszuholen, sich aber auch nicht zu überreizen?
Die Gefahr, es falsch zu machen, ist beim Ausdauersport schon sehr groß - insbesondere dann, wenn man sich nicht mit Menschen umgibt, die Erfahrungen haben und sich auskennen. Man sollte sich Menschen und Gruppen suchen, die dabei helfen, die richtigen Ziele zu stecken und ein Trainingsplan zu erstellen. Es gibt in jeder Stadt Laufgruppen, die von kompetenten Leuten geleitet werden. Das richtige Wissen beginnt beim Schuhwerk und hört bei der Trainingsgeschwindigkeit nciht auf. Auch über das Thema Ernährung wird in solchen Gruppen vernünftig diskutiert. Auch die sozialen Medien sind eine Möglichkeit des Wissensgewinns, doch dort ist es sehr schwierig, einzuschätzen, wer über die nötigen Qualifikationen verfügt.
Welche Rolle spielt der Kopf beim Vorbereiten auf einen Marathon oder Triathlon? Unterscheiden sich Ausdauersportarten psychologisch von Kraftsport oder eher spielenden Aktivitäten wie Fußball?
Sie unterscheiden sich psychologisch immens. Im Sportspiel wie Fußball oder Tennis ist Spielcharakter grundsätzlich sehr motivierend. Beim Laufen ist es schwerer, den Genuss zu finden. Doch Leute, die ihn finden, lieben das Laufen.
Reden wir hier von dem berüchtigten Runner’s High, von dem viele Laufende berichten?
(lacht) Nein. Das Runner’s High ist so eine Sache. Man hat versucht, es mit Hormonen wie Endorphinen zu erklären, aber das hat nicht vollständig funktioniert. Das konnte man nur zum Teil nachweisen.
![Collage: rbb | IMAGO / Nico Herbertz, Beautiful Sports, Imagn Images Xavi Alonso, Gina Lückenkemper, Travis Kelce und Taylor Swift](https://images.sportschau.de/image/aa7871b6-095d-41ca-ae46-2b03a2466760/AAABlPaRfWA/AAABkZLngyM/1x1-256/rbb-collage-rbb-106.jpg)
Ist es also eher ein Mythos?
Das würde ich nicht sagen. Es gibt dieses Hochgefühl, aber das lässt sich nicht allein durch Hormone oder Transmitter begründen. Es finden dabei vermutlich auch psychologisch-meditative Programme statt. Beides zusammen führt dazu, dass man sich auch noch bei einer hohen Geschwindigkeit locker und frei fühlt. Ich würde es als Flow-Zustand, bei dem man die Anstrengungen kaum noch spürt, bezeichnen. Das kann das schönste Gefühl sein, doch es ist schwer zu finden und kann nur entstehen, wenn man sich komplett auf sich und das Laufen selbst fokussiert.
Wie gelingt es, nicht nur den einen Marathon oder Triathlon zu absolvieren, sondern langfristig dranzubleiben?
Es gelingt, wenn das Laufen nicht in einen Sportzwang mündet, sondern aus positiver Leidenschaft betrieben wird. Vielen hilft es auch, sich vor allem auf die Gemeinschaft in der Gruppe zu freuen. Die Leute, die dabeibleiben, genießen die Lauf-Community, mit der sie sich zusammen vorbereiten. Natürlich wollen sich viele verbessern und neue Ziele erreichen, doch die positive Leidenschaft darf nicht dahinter zurückstehen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Marc Schwitzky.
Sendung: rbb24, 11.02.2025, 21:45 Uhr