Pokalspiel der Hertha-Frauen gegen Wolfsburg Pokalspiel der Hertha-Frauen gegen Wolfsburg: Ein 0:6, das sich wie ein Sieg anfühlt
Die Frauen von Hertha BSC haben im DFB-Pokal eine herbe 0:6-Niederlage gegen den VfL Wolfsburg kassiert - und sind dennoch zufrieden. Die euphorische Stimmung rührt von einer besonderen Begegnung mit den eigenen Heldinnen. Von Marc Schwitzky
Nach Abpfiff drehen die Frauen von Hertha BSC ihre Ehrenrunde durch das Stadion. Immer wieder umarmen sich die Spielerinnen dabei, frotzeln miteinander, begleitet von einem permanenten Winkgruß an die Fans. Vor der Fankurve angekommen, machen sie einen längeren Halt.
Gemeinsam mit den leidenschaftlichsten Unterstützerinnen und Unterstützern des Abends singen, springen und klatschen sie. Ein Hauch von Ostkurve im Stadion am Wurfplatz. Es ist eine ausgelassene Stimmung. Natürlich, denn Hertha hat soeben in der 2. Runde des DFB-Pokals der Frauen mit 0:6 gegen den VfL Wolfsburg verloren. Da erklärt sich das Feiern schließlich von selbst.
Ungleiche Fußballwelten prallen aufeinander
"Es hat sich so angefühlt, als wenn wir gewonnen hätten. So wie wir uns gefreut und mit den Fans gefeiert haben. Ein 0:6 gegen solch eine Mannschaft ist ja auch fast wie gewonnen", zeigt sich Lilli Genthe nach dem Spiel regelrecht euphorisiert. Herthas Rechtsverteidigerin strahlt nach dem Pokal-Aus über beide Ohren.
Es mag eigenartig wirken, dass sich eine Mannschaft so sehr über eine 0:6-Niederlage freut. Doch ein Blick auf die Ausgangslage des Spiels erklärt die Gefühlswelt der Hertha-Frauen sehr schnell. Hertha BSC und der VfL Wolfsburg - im Frauenfußball treffen hier ungleiche Realitäten aufeinander.
Die Niedersachsen sind neben dem FC Bayern München das größte Aushängeschild des deutschen Frauenfußballs. Hier versammeln sich zwei Champions-League-Titel, sieben deutsche Meisterschaften und elf Pokalsiege. Das Team ist gespickt mit Weltklasse und deutschen Nationalspielerinnen, die sich regelmäßig auf dem höchstmöglichen Niveau des Frauenfußballs messen. Viel größer wird es im Frauenfußball also nicht.
"Hürde fürs Weiterkommen utopisch"
Die Frauenabteilung von Hertha ist hingegen erst etwas mehr als ein Jahr alt. Die Berlinerinnen spielen in der Regionalliga - der dritthöchsten Spielklasse. Doch im Frauenfußball geht aufgrund unterschiedlich schneller Professionalisierungen die Schere zwischen der Beletage der Bundesliga und Drittligisten deutlich weiter auf als im Vergleich zum Männerfußball. Am Freitagabend traf - um kurz beim Bild der Fußballmänner zu bleiben - quasi der FC Bayern auf einen Amateur-Dorfverein.
"Ehrlicherweise muss man sagen, dass nach dem Los klar war, dass die Hürde fürs Weiterkommen utopisch hoch ist", sagte Herthas Frauentrainer Manuel Meister vor dem Spiel. Gegner Wolfsburg würde “gegen Schülerinnen, Studentinnen und Arbeitnehmerinnen, die nach der Arbeit und nach dem Studium trainieren", in der zweiten Hauptrunde des DFB-Pokals antreten.” Und die Berlinerinnen spielen am Freitagabend gegen die eigenen Heldinnen und Vorbilder.
Hertha schlägt sich respektabel
Hertha-Fans sind sich aufgrund des eklatanten Qualitätsunterschieds vor dem Anpfiff einig: Eine Niederlage mit einer Gegentoranzahl unter der Zweistelligkeit wäre ein riesiger Erfolg. Von einem eigenen Treffer wagt niemand zu träumen. Aber das scheint an solch einem Feiertag auch egal zu sein. Das Herthaner Amateurstadion verwandelt sich am Freitagabend zu einem Fanfest, es geht deutlich familiärer und entspannter zu als bei den Hertha-Männern. Es ist den Blau-Weißen regelrecht anzumerken, wie sehr sie es genießen, dass es in einer Partie mal nicht um "alles" geht. Heute kann Hertha nur gewinnen - das passiert nicht oft.
Der Spielverlauf gestaltet sich wie erwartet. Aber eigentlich nicht. Ja, die Herthanerinnen rennen von Beginn an nahezu ausschließlich dem Ball hinterher. "Am Anfang waren wir alle sehr nervös, aber dadurch, dass wir uns alle gepusht und füreinander gekämpft haben, sind wir schnell in unsere Ordnung gekommen", erklärt Abwehrspielerin Genthe. Und so werden die jungen Frauen der "alten Dame" mit jeder Minute ansteigend tatsächlich zum Sand im Wolfsburger Getriebe. Jeder gewonnene Zweikampf wird auf dem Feld wie auf den Rängen bejubelt, jede Minute ohne Gegentor fühlt sich wie ein Erfolg an, jede Sekunde im eigenen Ballbesitz wie ein Privileg.
Tempo, Körperlichkeit, Technik, Übersicht, Präzision - es wird sofort offensichtlich, dass der VfL in allen Belangen überlegen sein wird. Doch kämpferisch wie läuferisch hält Hertha überaus beachtlich dagegen. Dicht gestaffelt im 5-3-2 bereiteten die Hauptstädterinnen dem Team, das den Pokal seit 2015 durchgehend gewonnen hat, echte Probleme. "Wir hatten den klaren Plan, uns so zu präsentieren, wie wir uns heute auch präsentiert haben. Wir haben die ersten 20 Minuten überhaupt kein Gegentor kassiert", zeigt sich Trainer Meister nach Abpfiff stolz. "Wir wollen, dass alle da draußen sehen können, wie viel Leidenschaft wir auf den Platz bringen. Verteidigen ist im Fußball nicht so toll, aber es sah dennoch so aus, als ob die Spielerinnen richtig Spaß daran hätten."
Ein zweitrangiges Ergebnis
In der 13. Minute wäre Hertha sogar beinahe das Wunder - ein eigenes Tor und die Führung - gelungen. Rechtsverteidigerin Genthe bittet zwei “Wölfinnen” zum Tanz, setzt sich durch, schlägt die präzise Flanke. Abnehmerin Elfie Wellhausen kommt an den Ball, doch ihre technisch anspruchsvolle Direktabnahme kann von Ex-Nationaltorhüterin Merle Frohms noch pariert werden. Näher sollte Hertha dem Tor an jedem Tag nicht mehr kommen. Stattdessen geht Wolfsburg - erst - in der 22. Minute in Führung, von der aus das Spiel zumindest in der Tendenz seinen erwarteten Verlauf nimmt. Zur Halbzeit steht es trotz größter Bemühungen der Berlinerinnen 0:3. Die individuelle Klasse des Erstligisten ist schlicht zu hoch, als dass sämtliche Angriffswellen abgewehrt werden können.
In der zweiten Halbzeit ergibt sich ein ähnliches Bild. Hertha gibt alles, agiert defensivtaktisch überaus diszipliniert. Mittlerweile ist die Sonne beinahe komplett untergegangen und im Flutlich kommt echte Pokalatmosphäre auf. Torhüterin Aaliyah-Milene Thomas wächst am Freitagabend regelmäßig über sich hinaus, zeigt mehrere Glanzparaden und sogar überraschend gute Elemente mit dem Ball am Fuß. Hertha scheut sich nicht, im Spielaufbau auch mal die flache Variante zu probieren - doch der Ball ist stets schnell weg und wird in den so routinierten Weltklasse-Beinen der Wolfsburgerinnen gekonnt hin- und hergeschoben. Doch bis zum Ende gibt sich Hertha keine Blöße, auch im zweiten Durchgang fallen nur drei Gegentore, was zum 0:6-Endstand führt.
Das Spiel des Lebens
Das Ergebnis tut der Stimmung keinen Abbruch - im Gegenteil. Das 0:6 wird während des Spiels und nach Abpfiff von über 3.000 gekommenen Fans gefeiert. "Bei der Lautstärke bekommt man richtig Gänsehaut", sagt Spielerin Genthe, die die Kulisse mit dem letzten Auswärtsspiel im Unioner Stadion an der Alten Försterei vergleicht. "Nur waren es dieses Mal deutlich mehr Hertha-Fans. Es hat sehr viel Spaß gemacht."
"Positive und negative Emotionen schaffen Erinnerungen. Man nimmt so viel positive Energie mit, weil die Fans einen so unterstützt haben", so Trainer Meister. Blickt man in die freudestrahlenden Gesichter der Hertha-Spielerinnen, die meist nicht älter als 20 Jahre sind, erkennt man: Heute wurden positive Erinnerungen geschaffen. Nur knapp ein Jahr nach der Gründung der Hertha-Frauenabteilung gegen eine Weltklasse-Mannschaft wie Wolfsburg zu spielen, ist ein Meilenstein. "Das Spiel wird bei uns allen noch lange in Erinnerung bleiben", bestätigt Genthe noch etwas ungläubig. Es ist das bisherige Spiel des Lebens für sie und ihre Teamkameradinnen.
Das größte Lob
"Sie mussten die gesamte Zeit an ihrem absoluten Limit spielen. Und das ist ja das Ziel, dass jede Spielerin hat: ihren Leistungsmaßstab immer weiter nach oben zu schieben. Gegen den Ball haben sie das heute getan", so Trainer Meister über den Prozess seiner Spielerinnen. "Im letzten Jahr hat der SC Sand (Zweitligist, bis 2022 Erstligist gewesen, Anm. d. Red.) im Halbfinale mit 0:9 gegen Wolfsburg verloren. Dadurch fühlt sich unser 0:6 wie ein Sieg an."
Meister berichtet noch vom vermutlich größten Lob des Abends. Nach Abpfiff habe es von der Wolfsburg-Bank geheißen: "Wenn ihr so weitermacht, sehen wir uns zukünftig noch deutlich öfter." Als er jene Worte rezitiert, hat der 41-Jährige ein Glitzern in den Augen.
Sendung: rbb24 Inforadio, 06.09.2024, 20:15 Uhr